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Die Mängel der Verfassung

Von Helmut Pietzka

Gastkommentare

Ein Hochloben unserer Verfassung ist nicht angebracht, denn es fehlt darin viel.


Für den früheren VfGH-Präsidenten Ludwig Adamovich und auch für Bundespräsident Alexander Van der Bellen ist unsere Verfassung "schön und elegant", weil sie ohne jedes Pathos auskommt und nur die Normen enthält, die man braucht, aber nichts darüber hinaus (wie vor einiger Zeit in der "Wiener Zeitung" zu lesen war).

Das mag richtig sein hinsichtlich der von der Verfassung vorgeschriebenen Vorgangsweise nach einer Abwahl der gesamten Regierung durch das Parlament. Aber sonst ist das Hochloben unserer Verfassung falsch. Denn was den Aufbau einer dringend nötigen Gegenmacht zur Dominanz der Parteien und ihrer Führungspersonen durch Einbeziehung der Bürger in die politischen Entscheidungen betrifft, ist sie unbrauchbar und gehört reformiert, denn sie schweigt über fast alle politischen Rechte der Bürger. Und für das positive Recht ist alles irrelevant, was nicht geschrieben steht. Und es fehlt viel in der Verfassung.

Eine Möglichkeit für das Einbauen des Mitbestimmungsrechts der Bürger in die Verfassung wurde 1950 versäumt, als man es unterließ, die in der UN-Erklärung der Menschenrechte 1948 vorgegebenen Artikel 1 (Rechtsgleichheit) und Artikel 21 (Mitbestimmung) zu übernehmen. Auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention und jetzt im EU-Grundrechtekatalog fehlen sie. Das war ein schwerer Fehler. Dadurch wurde ein Grundstein für die politischen Rechte der Bürger entfernt.

In der Verfassung fehlt die Klarstellung, . . .

dass die Gesamtheit der wahlberechtigten Bürger der einzige und alleinige Inhaber des Rechts zur Gestaltung der verschiedenen Gemeinwesen ist, wie Bund, Land, Gemeinde und Sonderorganisationen. Das Recht geht nicht nur vom Volk aus (derzeit riecht es nur etwas nach Volk), sondern die Gesamtheit der wahlberechtigten Bürger muss oberste Gesetzgebungs- und Kontrollinstanz sein und alle staatlichen Institutionen und ihre Arbeitsweise festlegen und verändern können.

dass die wahlberechtigten Bürger aus verschiedenen Gründen Vertreter in die gesetzgebenden Körperschaften wählen und dabei die ursprüngliche Übertragung eines Teils ihres Mitbestimmungsrechts - zeitlich begrenzt - erneuern. Die erste Übertragung erfolgte bei der ersten Wahl nach Erlangung der Bürgerschaft. Das nur höchstpersönlich ausübbare Mitbestimmungsrecht (Widerspruchsrecht) verbleibt natürlich immer beim Bürger. Wer einer Partei vollauf vertraut, könnte bei Wahlen für die Dauer der Gesetzgebungsperiode ausdrücklich auf die Nutzung seines nur höchstpersönlich ausübbaren Teils des Mitbestimmungsrechts durch Eintrag auf dem Wahlzettel verzichten. Es gäbe dann Bürger mit Widerspruchsrecht und solche, die darauf zeitweilig verzichtet haben.

dass die Wahl nicht nur die Stimmabgabe für eine Partei ist, sondern vor allem die Übertragung des Mitbestimmungsrechts der Wahlberechtigten an die gewählten Vertreter, die die Grundlage des Parlaments bildet und die Schaffung von Recht im Parlament ermöglicht. Weder das Mitbestimmungsrecht der Wahlberechtigten selbst noch seine Übertragung ist in der Verfassung festgehalten.

dass der Inhaber des Gestaltungsrechts (die Wahlberechtigten) völlig frei jeden Rechtsbereich ändern kann. Nur den gewählten Abgeordneten könnten Beschränkungen auferlegt werden, nicht aber dem Inhaber der Gestaltungsrechts selbst.

dass die gewählten Vertreter ohne die Zustimmung des Rechtsinhabers keine Verträge eingehen können, die nur erschwert oder gar nicht gekündigt werden können. Das Gleiche gilt für Gesetze mit Passagen im Verfassungsrang. Jede Verfassungsänderung muss ab sofort von der Zustimmung des Rechtsinhabers abhängig gemacht werden.

dass die Politiker Ergebnisverantwortung haben. Der Einsatz von Steuergeld muss für die Bürger akzeptable Ergebnisse liefern (Legitimation durch Ergebnisse). Die Bürger haben die Gesamtverantwortung, denn sie tragen die Folgen der Entscheidungen der gewählten Vertreter.

dass die Bürger durch ihre Gesamtverantwortung Informationsrecht haben. In jeder Gemeinde beziehungsweise in jedem städtischen Magistrat sind Infostellen einzurichten.

dass die Parteienfinanzierung aus Steuermitteln ein Maximum nicht überschreiten soll.

dass Mehrjahrespläne (etwa Finanzpläne) der geeignete Ort für das Einüben der Mitbestimmung durch die Wahlberechtigten sind.

dass Maßnahmen mit großer Wirkung wie Öffnung unserer Arbeits-, Dienstleistungs- und Gütermärkte immer der Zustimmung des Rechtsinhabers bedürfen. Bei uns wurde diese Entscheidung pauschal durch den Beitritt zur Europäischen Union erledigt.

dass das Sozialsystem ausschließlich durch nicht ausbezahlten Lohn finanziert wird, daher haben auch nur die Arbeitnehmervertreter die Entscheidungsberechtigung.