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Die Tür eines echten Dialogs in Venezuela könnte sich öffnen

Von Ulrich Brand

Gastkommentare

In diesen Wochen besteht die Möglichkeit, zurück zur Realpolitik zu kommen. Dabei ist auch ein Kurswechsel einiger europäischer Regierungen gefragt.


Die Politik der Konfrontation ist gescheitert. Auf einmal sind in Venezuela echte Verhandlungen denkbar, nicht nur zwischen den beiden "Regierungen", sondern auch in der Gesellschaft. Zum ersten Mal seit Jahren scheint die Polarisierung aufzubrechen. Wenn Deutschland und Österreich mithelfen wollen, dass diese Chance zu einer friedlichen Lösung genutzt wird, dann müssen sie die voreilige Entscheidung revidieren, auf die Opposition zu setzen.

Seit längerer Zeit ist die politische Situation in Venezuela festgefahren. Nach dem Wahlsieg der Opposition bei der Parlamentswahl Ende 2015 ging es der Regierung des umstrittenen Präsidenten Nicolás Maduro vor allem um Machterhalt. Mitte 2017 installierte sie mit fragwürdigen Wahlen eine "verfassungsgebenden Versammlung", die seither neben der Nationalversammlung als zweites Parlament fungiert.

Wirtschaftspolitische Inkompetenz, zunehmender Klientelismus und der rapide Verfall der Erdölpreise Mitte 2014 führten das Land mit den größten Ölreserven der Welt in einen wirtschaftlichen Kollaps. Binnen fünf Jahren hat sich die Wirtschaftsleistung halbiert, die einheimische Währung Bolívar ist weitgehend entwertet, der Zugang zum US-Dollar wird zu einer zentralen Überlebensbedingung. In der Hafenstadt Maracaibo werden nicht mehr die Stunden des Stromausfalls gezählt, sondern die Stunden, an denen es überhaupt Strom gibt. Schätzungen zufolge wird fast die Hälfte der wirtschaftlichen Transaktionen über informelle Märkte abgewickelt.

Die Gesellschaft befindet sich in Auflösung, Gewalt und Korruption nehmen zu. Laut den Vereinten Nationen leben aktuell mehr als vier Millionen Menschen im Ausland, die meisten haben seit 2015 das Land verlassen. Angesichts der humanitären Krise, in der sich Venezuela befindet, fliehen weiterhin täglich Hunderte aus dem Land in eine absolut unsichere Zukunft.

Machtkampf zwischen Nicolás Maduro und Juan Guaidó

Das zentrale politische Problem war bisher die Unnachgiebigkeit beider Seiten. Regierung und Opposition folgten einer Art Kriegslogik. Die Zuspitzung der Situation begann Anfang dieses Jahres: Maduro trat nach den umstrittenen gewonnenen Präsidentschaftswahlen von Mai 2018 am 10. Jänner seine zweite Regierungsperiode an.

Zwei Wochen später erklärte sich der Vorsitzende der von der Opposition beherrschten Nationalversammlung, Juan Guaidó, zum "legitimen" Präsidenten. Der junge Politiker vereinte die bis dahin gespaltene Opposition wieder und forderte "das Ende der Amtsanmaßung, eine Übergangsregierung und freie Wahlen". Er wollte mit der aktuellen Regierung keinen Übergang verhandeln, sondern lediglich die Bedingungen, unter denen Maduro das Amt aufgeben sollte.

Die US-Regierung erkannte Guaidó wenige Minuten nach seiner Selbsternennung mit einer offensichtlich vorbereiteten Erklärung als neuen venezolanischen Präsidenten an. Auch der Zusammenschluss der rechten Regierungen Lateinamerikas, die "Gruppe von Lima", unterstützte die Parallelregierung nach wenigen Tagen. Anfang Februar erklärten viele europäische Regierungen, darunter jene Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Österreichs, die Guaidó-Regierung zur einzig legitimen.

Während einiger Wochen stand sogar eine militärische Intervention unter Führung der USA im Raum. Allerdings ist eine solche militärische Einmischung in den USA, bei der auch US-Soldaten sterben würden, schwer zu vermitteln. Zum Glück für die krisengeschüttelte Bevölkerung ist es bisher nicht so weit gekommen.

Sanktionen schwächten Regierung nicht sichtbar

Die Wirtschaftssanktionen haben zwar die Versorgungslage weiter verschlechtert, aber nicht die Regierung sichtbar geschwächt. Zudem wird die Maduro-Regierung aus wirtschaftlichen Gründen von China und aus geopolitischen Gründen von Russland gestützt. Und geschätzte 20 Prozent der Bevölkerung, vor allem aus den ärmeren Schichten, stehen hinter Maduro.

Guaidó hat im Jänner entscheidend darauf gesetzt, dass ein Teil des Militärs die Seiten wechselt und sich hinter ihn stellt. Zuletzt hat er am 30. April die Militärs erneut zu einem Aufstand gegen die Regierung aufgerufen. Doch auch dieser Versuch ist wie einige zuvor gescheitert. Das Militär ist bis heute die zentrale Basis der Regierung Maduro. Die Hoffnungen auf einen schnellen Umsturz, die Guaidó innerhalb der Opposition entfacht hatte, hat er damit endgültig enttäuscht.

Neue informelle undöffentliche Diskussionsräume

Mit dem Scheitern Guaidós, die Militärs auf seine Seite zu ziehen, hat sich die politische Situation deutlich verändert. In einer Erklärung sprachen sich Anfang Mai 500 Prominente aus allen politischen Lagern gegen eine militärische Lösung aus und riefen zu Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition auf. Seither entstanden viele informelle und öffentliche Diskussionsräume, in denen die Opponenten endlich anfingen, über die Probleme und über politische Lösungen zu sprechen. Das war vor wenigen Wochen noch undenkbar, zumal frühere Dialogversuche - an denen auch der Papst beteiligt war - gescheitert sind. Nach dem Scheitern der "Alles oder nichts"-Strategie Guaidós und Maduros können sich nun die an Dialog interessierten Kräfte innerhalb des Chavismus und der Opposition, die es immer gab, mehr Gehör verschaffen.

Ein nächster Schritt war auf Vermittlung der norwegischen Regierung die Initiierung von Gesprächen zwischen beiden politischen Lagern zunächst in Oslo und seit Mitte Juli auf der Karibik-Insel Barbados. Aktuell werden die Interessen der Verhandlungsparteien formuliert.

Ein weiterer Faktor, der Hoffnung gibt, sind aktuelle Umfragen in Venezuela: In einer unabhängigen Umfrage im Mai sprachen sich 43 Prozent der Bevölkerung für eine gemischte Übergangsregierung mit Vertretern aus beiden Lagern aus, bis es zu freien Wahlen kommen kann. Auch diese hohe Zustimmung für eine solche politische Lösung war vor kurzem noch undenkbar. Die gesellschaftliche Anerkennung Guaidós fiel von mehr als 50 Prozent auf aktuell 36 Prozent und nimmt weiterhin ab; seine Partei erhält in aktuellen Umfragen nur noch 10 Prozent Unterstützung. Immerhin 30 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass man den Chavismus bei der Lösung der Probleme nicht übergehen könne.

Ob das zarte Pflänzchen des Dialogs weiter wächst, es zu freien Wahlen und zu einer angemessenen Krisenpolitik kommt, müssen die kommenden Wochen zeigen. Denn es gibt noch eine Menge noch nicht gelöster Probleme. Viele der hohen Militärs profitieren ökonomisch vom aktuellen System der Korruption sowie des Zugangs zu Gütern und Dollars. Auch mafiöse Gruppen haben Interesse an der Aufrechterhaltung des aktuellen Krisenzustands.

Koalitionsregierung alsAusweg aus der Krise?

Zudem hätten baldige Wahlen einige Haken. Zum einen bedeutet ein Wahlkampf sofort wieder Polarisierung, was eben den weiteren Dialog und die Suche nach konkreten Lösungen erschwert. Und zweitens muss ein transparenter Wahlprozess überhaupt erst organisiert werden. In die von der Regierung dominierten Wahlkommissionen wären politisch unabhängige Personen aufzunehmen. Weiters bedürfte die Wahl der internationalen Beobachtung. Und schließlich müssen viele Auswanderer, die teilweise illegal in den Nachbarländern leben, in den aktuellen Wählerverzeichnissen registriert werden.

Das alles spricht für eine andere Option: Der venezolanische Ökonom Victor Álvarez schlägt eine Koalitionsregierung vor, damit die tiefe Krise gemeinsam angegangen wird. Wichtig ist dabei, dass die wirtschaftliche Stabilisierung nicht auf dem Rücken des ärmsten Teils der Bevölkerung ausgetragen wird.

In Venezuela besteht in diesen Wochen die Möglichkeit, zurück zur Realpolitik zu kommen: Nicht die Vernichtung des politischen Gegners sollte im Zentrum stehen, sondern dessen Anerkennung und die Suche nach Kompromissen. Wichtig wäre nun, dass jene europäischen Regierungen, die Guaidó vorschnell anerkannt haben, ihren Fehler revidieren. Dann könnten sie eine Vermittlerrolle übernehmen, so wie es die norwegische Regierung tut und die mexikanische und uruguayische Regierung angeboten haben. Nur mit einem international anerkannten Dialog zwischen den bisher verfeindeten Kräften ist eine friedliche Zukunft für das lange Zeit wohlhabendste Land Lateinamerikas möglich.