Zum Hauptinhalt springen

Die Wähler dürfen nur zuschauen

Von Helmut Pietzka

Gastkommentare
Helmut Pietzka war bis zu seiner Pensionierung Finanzmanager in multinationalen Unternehmen.
© privat

Die Verfassung hat einen Konstruktionsfehler: Die Bürger treten einen Teil ihrer politischen Rechte an die Parteien ab.


Hans Kelsen, der geistige Vater der österreichischen Verfassung, hat klar erkannt, dass es ohne Parteien keine Demokratie geben kann. Sein Fehler war, dass er die absehbare Weiterentwicklung Österreichs zu einem Parteienstaat in der Verfassung 1920 absichtlich oder im Auftrag des Sozialdemokraten Karl Renner oder des Christlichsozialen Michael Mayr nicht ordnete und auch die Stellung der Bürger zu den gewählten Abgeordneten und den staatlichen Institutionen völlig offen ließ. Er brachte zwar die Repräsentationsfiktion ins Spiel, scheinbar hatte er Zweifel, ob sich die Wahlbürger immer von den gewählten Abgeordneten gut vertreten fühlen. Schließlich passte er sich dann doch an seine Auftraggeber an. Hätte man die Bürger als politische Akteure gewollt, wäre eine verfassungsmäßige Festlegung ihrer politischen Rechte neben dem Wahlrecht entscheidend gewesen.

Die Parteien profitierten von dieser Lücke in der Verfassung. Sie konnten sich frei nach ihren Vorstellungen organisieren und frei arbeiten. Die gewählten Abgeordneten übertrugen ihre bei der Wahl erlangte Gestaltungsmacht de facto der jeweiligen Parteileitung und verschafften dieser so Dominanz. Nur die völlige Unabhängigkeit von den Bürgern, das Agieren in eigenem statt in übertragenem Recht ist den gewählten Abgeordneten und ihren Parteien bis heute nicht gelungen, es gilt nur das auftragsfreie Mandat der gewählten Abgeordneten.

Die Bürger konnten und können wählen, aber es wurde nicht festgehalten, dass nur die Abtretung ihrer Rechte den Bestand des Parlaments und der übrigen Institutionen begründet, ermöglicht und sichert. Ohne diese Abtretung gäbe es keinen demokratischen Staat.

Das Versinken der Bürger in die politische Bedeutungslosigkeit lag an ihrer schlechten und nicht gestützten Position gegenüber den (Berufs-)Parteipolitikern. Als Ausgleich für die Abtretung eines Teils ihrer Rechte hätten die Bürger das verfassungsmäßig festgeschriebene Recht auf Mitarbeit, Information, Kontrolle, Schutz und Hilfe erhalten müssen. So aber wurden sie zu bloßen Zuschauern und dürfen bloß dem Ablauf des politischen Spektakels zusehen und die Personalisierung der Politik bei Elefantenrunden vor Wahlen erleben. Sie wurden politisch apathisch und bemühen sich hauptsächlich um ihre persönlichen Angelegenheiten. Die Behandlung der Bürger durch die Politik könnte man auch als gesetzlich nicht verbotene Diskriminierung ansehen.

Die Verfassung müsste durch eine Totalrevision modernisiert werden. Dabei müsste in Artikel 1 ergänzt werden, dass die Gesamtheit der Wahlberechtigten die oberste Rechtsetzungs- und Kontrollinstanz mit Widerspruchsrecht ist und die Existenz des demokratischen Staates ausschließlich auf den Mitbestimmungsrechten der Bürger gegründet ist. Da nicht anzunehmen ist, dass die Parlamentsparteien einer Verfassungsänderung zustimmen würden, die eine Machtteilung mit den Bürgern brächte, müssten die Bürger ein verlässliches, unabhängiges Infosystem aufbauen, um als Gegenmacht zur Politik wirken zu können.