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Die neue Weltmacht

Von Heinz Fischer

Gastkommentare

Europa darf nicht auf eine vernünftige und gleichberechtigte Zusammenarbeit mit China verzichten.


Die Volksrepublik China feiert heute, am 1. Oktober, ihren 70. Geburtstag. In diesem Zusammenhang vergeht kein Tag, ohne dass in den führenden Medien der Welt Analysen über die höchst bemerkenswerte und erstaunliche Entwicklung Chinas veröffentlich werden. Und es vergeht kaum eine Woche, ohne dass ein neues Buch über China erscheint. Die Bandbreite der Meinungen, die auf diesem Weg veröffentlicht werden, ist enorm: Von einem zuversichtlichen Resümee bis zu tiefem Pessimismus, von wohlwollender Betrachtung bis zu rigoroser Ablehnung reicht die Skala.

Ich selbst habe die Entwicklung Chinas seit meiner Studentenzeit mit Neugierde und Aufmerksamkeit verfolgt, und dieses Interesse ist bis heute ungebrochen geblieben. Das China des 19. Jahrhunderts war ein rückständiger feudalistischer Gigant - zumindest in Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl -, der sich aber weder selbst regieren noch wirksam verteidigen konnte und sowohl von europäischen Mächten als auch von Japan ausgebeutet und gedemütigt wurde. Dieses schwache und wenig attraktive China verstellte den Blick auf das starke und erfolgreiche China früherer Jahrhunderte, das lange Zeit mit der europäischen Zivilisation und Kultur mithalten konnte und ihr phasenweise sogar überlegen war. Ich habe China erstmals im Herbst 1974 - also noch in der Endphase der "Kulturrevolution" - und danach zehn weitere Male besucht, zuletzt im heurigen September. Es ist erstaunlich, wie viel sich zwischen dem 25. und dem 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China geändert hat.

Etliche Zahlen und Indikatoren zeigen Chinas Aufschwung

Im Rahmen des jüngsten Besuchs war ich auch wieder in Xi’an, einer Stadt, die besonders gut geeignet ist, die historische Dimension Chinas in Erinnerung zu rufen. Xi’an liegt ziemlich genau in der geografischen Mitte Chinas und war vom 11. Jahrhundert vor Christus bis zum 9. Jahrhundert nach Christus unter dem Namen Chang’an das wohl wichtigste Zentrum der chinesischen Welt. Berichten zufolge war es weltweit die erste Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern (heute hat Xi’an mehr als sieben Millionen Einwohner).

Weltberühmt ist vor allem die aus mehr als siebentausend lebensgroßen oder sogar überlebensgroßen Figuren bestehende unterirdische Terrakotta-Armee, die dem im 3. Jahrhundert vor Christus lebenden Kaiser Qin Shihuangdi beigegeben wurde, um ihn auch nach seinem Tod zu beschützen. Es war dieser Kaiser, dem es im 3. vorchristlichen Jahrhundert gelang, einen Großteil des heutigen China unter seiner Herrschaft zu vereinigen und damit auf vielfältige Weise die politischen und zivilisatorischen Grundlagen für ein "Reich der Mitte" zu schaffen.

Der Sturz der extrem unpopulär gewordenen Qing-Dynastie im Jahr 1911 eröffnete ein neues Kapitel in der Geschichte Chinas. Damit war die Grundlage gelegt für eine Umwälzung der Gesellschaft durch starke patriotische und revolutionäre Strömungen und für die Gründung einer kommunistischen Partei 1921 in Shanghai unter Mitwirkung von Mao Zedong, aber auch der nationalistischen Kuomintang-Bewegung, in der Chiang Kai-shek ab 1925 die Führung übernahm. Die japanische Invasion, der Zweite Weltkrieg und der Bürgerkrieg zwischen Nationalisten und Kommunisten zerrütteten das verarmte Land zusätzlich und forderte in den drei Jahrzehnten von 1919 bis 1949 viele Millionen Tote.

Am 1. Oktober 1949 begann dann die "Gegenwart" Chinas, die zunächst von der eisernen Faust Maos und seiner Anhänger geprägt war und dann - nach dem Ende der zerstörerischen Kulturrevolution und dem Tod Maos 1976 - von Deng Xiaoping in eine Periode der Reformen und der Öffnung übergeleitet wurde, die wahre Wunder wirkte. Etliche Zahlen und Indikatoren machen diesen Aufschwung messbar. Hier eine kleine Auswahl:

Das Bruttonationaleinkommen der Volksrepublik China hat sich zwischen 2008 und 2018 von 4,1 auf 13,2 Billionen US-Dollar erhöht.

Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich im selben Zeitraum von 3467 Dollar auf 9608 Dollar fast verdreifacht.

China gilt heute in der Regel als die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, aber eine Analyse auf Basis von Kaufkraft-Paritäten zeigt, dass China mit 18 Prozent des globalen BIP bereits Europa (17 Prozent) und die USA (15 Prozent) überholt hat.

Das heutige Pro-Kopf-Einkommen in China beträgt 40 Prozent des europäischen Durchschnittseinkommens, während es 1990 bei 7 Prozent lag.

Ein multipolares System löst die alte bipolare Weltordnung ab

Das alles hat natürlich auch machtmäßige Auswirkungen und entsprechende Gewichtsverschiebungen zur Folge. Heute haben wir eine Situation erreicht, wo die jahrzehntelange bipolare Weltordnung - hier die USA und ihren Verbündeten, dort die Sowjetunion und ihre Verbündeten - von einem multipolaren System abgelöst wird, in dem die USA, China und Europa die stärksten Säulen bilden. Im Westen ist Chinas rasante Entwicklung vielfach Anlass zur Sorge - obwohl China auch als Wirtschaftsmacht Nummer eins noch lange nicht Militärmacht Nummer eins sein wird; denn auf diesem Gebiet ist der Vorsprung der USA bis auf Weiteres uneinholbar.

Die Sorge der USA als Nummer eins ist verständlich, aber das kann aus europäischer Sicht kein Anlass sein, auf eine vernünftige und gleichberechtigte Zusammenarbeit mit China zu verzichten. Die EU handelt vielmehr richtig, wenn sie auf gute und faire Beziehungen mit China - mag es nun die größte oder zweitgrößte Wirtschaftsmacht sein - weiterhin großen Wert legt. Sie handelt richtig, wenn sie China selbstbewusst und unter Wahrung der eigenen Interessen begegnet und dabei insbesondere auf Fairness und Reziprozität Wert legt - wie das auch in zahlreichen Dokumenten der EU festgelegt wird. Österreich handelte richtig, als beim Besuch des Bundespräsidenten im April 2018 in Peking vereinbart wurde, die Beziehungen mit China "auf die Ebene einer von Freundschaft getragenen strategischen Partnerschaft anzuheben" - und wir werden auch in Zukunft unsere Einstellung zu Fragen der Menschenrechte darlegen.

Jeder Staat hat Interessen: China, die USA, Österreich und Europa. Die entscheidende Frage ist, wie man damit umgeht und wie man sie auf friedliche und vernünftige Weise in Einklang bringen kann. Dabei bereitet es Sorge, wenn man sieht, dass die Bereitschaft, von diesem Grundsatz abzuweichen und eigene Interessen höher zu stellen und allenfalls auch durch militärische Interventionen durchzusetzen (oder diese zumindest anzudrohen), in den USA seit Donald Trumps Präsidentschaft eindeutig größer geworden ist. Es ist auch ein unbestreitbares Faktum, dass das Militärbudget der USA für 320 Millionen Amerikaner mehr als dreimal so groß ist wie jenes Chinas für etwa 1,4 Milliarden Chinesen.

Eine Politik mit Augenmaß im Kräftedreieck USA/EU/China

Natürlich kann man in diesem Zusammenhang die Frage stellen, wer denn garantieren kann, dass ein zur führenden Wirtschaftsmacht aufgestiegenes China sich in Zukunft nicht ebenfalls berechtigt fühlen könnte, seine Interessen verstärkt auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Nun, Garantien für zukünftige Entwicklungen gibt es nicht, weil wir die Zukunft nicht mit Sicherheit vorhersehen können. Ich denke aber, dass die historische Entwicklung Chinas und auch seiner heutigen Positionen Raum für ein gewisses Ausmaß an Zuversicht lässt in dem Sinn, dass der Weg von einer bipolaren zu einer globalen und multipolaren Welt fortgeführt werden und es zu den Hauptaufgaben einer multipolaren Welt gehören wird, globale Stabilität zu unterstützen und Schritt für Schritt den nationalen Rechtsstaat zum internationalen Rechtsstaat zu erweitern.

Die fortschreitende Globalisierung, die größer werdende Anzahl der Probleme, die nur durch internationale und globale Zusammenarbeit gelöst werden können, die rasant wachsende Vernichtungskraft der Waffentechnik, die militärische "Lösungen" immer inakzeptabler macht (siehe auch Chinas Abwendung von der Theorie der "Unvermeidbarkeit des Krieges"), und andere Faktoren tragen dazu bei, einen "heißen" Krieg als "Lösung" für politische oder ökonomische Interessengegensätze auch und gerade aus chinesischer Sicht immer unattraktiver zu machen. Schwer abzuschätzen ist allerdings, ob Chinas rasante ökonomische Entwicklung, der technologische Fortschritt und das Entstehen einer breiteren und immer wohlhabenderen Mittelschicht auch auf längere Sicht mit seinem derzeitigen politischen System vereinbar bleiben. Zumindest derzeit gibt es keine Anzeichen für verstärkten politischen Pluralismus.

Zum 80. Geburtstag der Volksrepublik im Jahr 2029 werden wir mehr wissen. Bis dahin haben wir allen Grund, gegenüber China an einer Politik mit Augenmaß festzuhalten und das Konzept der europäischen Integration und Kooperation fortzusetzen, weil eine wachsende Politikfähigkeit Europas eine entscheidende Voraussetzung dafür ist, im derzeitigen Kräftedreieck USA/EU/China, zu dem noch weitere Player hinzukommen könnten, eine vernünftige Balance zu halten und zu einer friedlichen Entwicklung beizutragen.