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Politik braucht Kunst und umgekehrt

Von Nikolaus Lehner

Gastkommentare
Nikolaus Lehner war mehr als 40 Jahre lang als Rechtsanwalt tätig und ist nunmehr Kommentator für Aktuelles in Kultur und Politik, Autor und Kurator für Ausstellungen. 2009 wurde er vom Bundespräsidenten zum Professor ernannt.
© Gregor Schweinester

Gedanken zur künftigen Ausrichtung des Burgtheaters unter Martin Kusej als europäisches Theater.


Die neueste österreichische Kulturgeschichte beginnt mit einem Wechsel des Schauspieldirektors des Burgtheaters von Karin Bergmann auf Martin Kusej. Dieser ist zwar ein Österreicher, aber geboren im ehemals umkämpften Grenzland zwischen Kärnten und Slowenien. Er ist also Kärntner Slowene mit der Muttersprache Deutsch, in einer Minderheit geboren und hat als ehemaliger Ministrant die katholische Moral inhaliert. Ich sehe ihn als kritischen Freigeist, Provokateur, geerdeten Kosmopoliten. Er erklärte einmal, dass Heimat für ihn kein Ortsgefühl sei, sondern gespeist werde von Erinnerungen und Gefühlen, die man auch weit weg von der Heimat haben könne.

Jeder Neuanfang benötigt einen Gründungsmythos als Grundenergie des Aufbruchs. Er wird daher das Burgtheater extrem kontroversiell, extrem vielgestaltig, extrem zeitgenössisch und extrem österreichisch und international führen. Kusej ist daher gewohnt, grenzübergreifend zu fühlen und zu denken, was sich dadurch manifestiert, dass er als oberste Maxime das Burgtheater weniger als allein deutschsprachiges Nationaltheater als vielmehr als europäisches Theater gemeinsam mit seinem Team führen will. Damit verbinde ich den Wunsch, dass sich die EU zukünftig finanziell an den enormen Kosten des Burgtheater-Betriebes beteiligen möge, um zu erreichen, dass es in Zukunft ein europäisches Nationaltheater wird.

Seit Jahrzehnten versucht die EU eine Vereinheitlichung im Bereich von Justiz, Innen-, Außen- und Verteidigungspolitik zu erzielen. Dies ist bekanntermaßen bisher nicht gelungen. Möglicherweise würde ein Zusammenschluss im Kulturbereich auch zu einem Umdenken in den politischen Bereichen führen. Kusej betont, und das ist völlig neu, dass das Burgtheater nicht mehr nur mit einer Zunge sprechen und nur auf einem Ohr hören, sondern als völlig offenes Theater - nämlich als ein europäisches - agieren soll.

Bei der Neuerfindung des Burgtheaters betont Kusej, dass er wünscht, dass die bisherige Bezeichnung "Burg" vermieden wird, da dies irreführend sei, "sein" Burgtheater soll nach allen Richtungen offen sein. Auf Befragung, was er von der Video-Botschaft einer berühmten Schauspielerin halte, erklärte der neue Burgtheater-Direktor, reine Parteipolitik sei "Quatsch". Für ihn gebe es in der Politik weder Links noch Rechts. Seine wichtigste Botschaft ist sichtlich die Qualität. Natürlich wird Kusej die Bühne als Parkett für Gesellschaftspolitik führen. Das Schauspiel ist eine Bühne für die Kunst, und Kunst ist ohne Politik undenkbar.

Gesellschaftspolitikauf der Bühne

Bekanntlich liegt der Ursprung des Theaters, soweit es gesichert ist, im religiösen Kult. Feiern zu Ehren einer Gottheit erregten den Wunsch nach einer Wiedergabe des Mythos, der sich im Glauben an eine übermenschliche Macht herausgebildet hatte. Die Bilder von Kampf, Sieg und Untergang wurden zu Grundbegriffen des Theaters. Abgesehen von den außereuropäischen Völkern, zum Beispiel in Indien und China, war der entscheidende Impuls für das europäische Theater die hellenische Antike. Über Jahrhunderte entwickelte sich die Schauspielkunst auf der Bühne zur friedlichen Auseinandersetzung der Gesellschaftspolitik.

Kunst ist ohne Politik nicht denkbar, weil Künstler durch ihre Kunst etwas mit einer Botschaft darstellen, die sie durch ihr Kunstwerk vermitteln; sei es eine politische Botschaft, sei es auch eine Kritik an der Gesellschaft. Im Hinblick auf die Bedeutung der Kunst wird diese durch verschiedene Maßnahmen, wie den Ankauf von Werken der Künstler oder Subventionen unterstützt. Die Künstler werden durch Galeristen vertreten und durch Kuratoren der interessierten Bevölkerung nähergebracht. Auch in Österreich ist dafür ein eigenes Ministerium installiert, wobei dieses eine wesentlich weitere Aufgabe zu vollziehen hat, nämlich die Kultur zu erhalten (Denkmalschutz).

Die Förderung von Kunst und Kultur stellt immer ein budgetäres Problem dar. Dazu gehört auch die Problematik der Verteilung der budgetären Mittel, weil im westlichen Österreich berechtigterweise die starke Bevorzugung der Bundeshauptstadt durch überproportionale Subventionierung kritisiert wird. Umgekehrt werden die Künstler durch versierte Politiker in der Form instrumentalisiert, dass man sie zu politischen Events einlädt und für Botschaften missbraucht.

Kunst bezeichnet im weitesten Sinn jede Tätigkeit, die auf Wissen, Wahrnehmung, Intuition, Übung und Vorstellung gegründet ist. Politik bezeichnet die Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens in Form von Einflussnahme, Gestaltung und Durchsetzung von Forderungen und Zielen. Arnold Bergstraesser definierte in den 1960er Jahren, dass unter Politik ein Begriff der Kunst verstanden werde, nämlich die Führung oft auseinanderstrebender Gruppen zu ordnen und zu vollziehen. Immer öfter bezieht man sich nicht nur auf Niccolò Machiavelli, sondern vor allem auch auf Max Weber, wobei die Politik das Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung darstellt.

Kunstlose Politik ist die traurige und gefährliche Realität

Für uns Bürger ist jener Politiker auch der erfolgreichste Künstler, der am stärksten überzeugt. Die schon von Aristoteles entwickelte idealtypische Politik ist von der realen zu unterscheiden. Letztere wird heute von Größenwahnsinnigen dominiert, siehe etwa Großbritannien und USA. Kunst hat jedenfalls eine starke gesellschaftspolitische Bedeutung, weil sie gesellschaftliche Verhältnisse beeinflusst. Politik benötigt die Kunst, und die Kunst benötigt die Politik. Kunstlose Politik ist die traurige und gefährliche Realität.

Politische Kunst entwickelte sich aber nicht nur auf dem Gebiet der darstellenden Kunst, sondern auch in der bildenden Kunst, Literatur und Musik. Zurückkommend auf Kusej wird dieser im Vergleich zu seiner Vorgängerin Bergmann mutiger agieren können, weil diese bekanntlich primär das von Georg Springer und Matthias Hartmann verursachte finanzielle Desaster zu konsolidieren bemüht war und dies unter der Ägide des neuen Holding-Chefs Christian Kircher auch großartig gelungen ist. Daher wird Kusej sowohl bei der Auswahl seiner Stücke als auch seiner Regisseure der Gesellschaftspolitik mehr Raum zugestehen. Immer mehr wird durch die Integration der technischen Medien in die Theaterarbeit eingegriffen, und es ist nur zu hoffen, dass dadurch nicht die Texte untergehen. Sicher ist es der Zug der Zeit, durch Übernahme modernster bühnentechnischer Errungenschaften das futuristische Experimentier-Theater zum Erfolg zu führen.

Ein Narrativ von größter Widersprüchlichkeit

Ich erinnere an die Form des politischen Theaters mit stark agitatorischem Charakter, welches ein zentrales Ausdrucksmittel der unterschiedlichsten Protestbewegungen war, sei es der Studentenrevolte in den westlichen Gesellschaften, aber auch der politischen Arbeiterbewegung oder ethnischer Minderheiten in den USA. Im Gegensatz dazu sehe ich das "epische Theater" von Bertolt Brecht, für den die Argumente wichtiger waren als die Agitation. Im Kontrast dazu stand und steht das konventionelle realistische Theater, das politische Inhalte eindeutig parteilich behandelt und besondere Bedeutung in der Programmatik des sozialistischen Realismus für die Theaterentwicklung in den sozialistischen Ländern hatte.

Wenn man Kusejs bisherige Arbeiten Revue passieren lässt, findet man jedenfalls keine Parteipolitik. Das Theater reagiert wie ein Seismograf, indem es alle Konfliktpotenziale realisiert und auf- beziehungsweise sich daran abarbeitet. Daher bietet es ein Narrativ von größter Widersprüchlichkeit durch das Neben- und Gegeneinander unterschiedlichster Richtungen, Tendenzen und Positionen. Die stärkste Wirkung bezieht es zum einen aus dem Widerspruch gegen das Verharren, zum anderen auch gegen den allzu radikalen Bruch mit der Tradition. Meine Neugierde auf das europäische Nationaltheater von Kusej ist grenzenlos.