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Sitzt der "kranke Mann" bald in Brüssel?

Von Philippe Narval

Gastkommentare
Philippe Narval ist Generalsekretär des Europäischen Forum Alpbach.
© privat

Hätte die EU ein geopolitisches Fieberthermometer, um die Sicherheit des Kontinents zu messen, stünde die Temperaturanzeige wohl schon jenseits der 40 Grad im roten Bereich. Einmal mehr haben die jüngsten Ereignisse in Nordsyrien gezeigt, wie unvorbereitet Europas Staatengemeinschaft solchen geopolitischen Umwälzungen gegenübersteht. Wenn wir nicht aufpassen, wird 100 Jahre nach dem Ende des Osmanischen Reiches der "kranke Mann" nicht am Bosporus sitzen, sondern in Brüssel.

Wenn ein einzelner Autokrat wie Viktor Orbán, der seit Jahren bewusst das Ziel verfolgt, die EU von innen heraus zu zerstören,
in der Lage ist, eine kohärente Politik gegenüber der Türkei zu torpedieren, macht das einmal mehr klar, wie dringend das Einstimmigkeitsprinzip bei Entscheidungen zur Außen- und Sicherheitspolitik endlich zugunsten einer europäischen Entscheidungsbefugnis fallen muss.

Aber die aktuelle Lage im Nahen Osten zeigt noch mehr als eine geschwächte EU, die mit einem unberechenbaren Autokraten am Bosporus verhandelt. Sie belegt auch, dass auf die USA in Bezug auf die Verteidigung der Sicherheitsinteressen der gesamten westlichen Welt kein Verlass mehr ist. Auch wenn die USA gerade Truppen nach Polen verlegen; wirklich einen Finger für Europa rühren wird weder Präsident Donald Trump noch sein möglicher Nachfolger. Für mich ist die Nato damit ein Stück Geschichte.

Dabei sprechen wir noch gar nicht von Russland mit seinen Vorposten in Transnistrien und der Ostukraine sowie seinen Destabilisierungsversuchen im Baltikum. Oder China, das nicht nur gezielt strategische Schlüsselindustrien in Europa aufkauft, wie den Roboterbauer Kuka oder in Österreich zuletzt den Flugzeugbauer Diamond Aircraft, sondern auch ein erhöhtes sicherheitspolitisches Interesse in unserer Nachbarschaft zeigt. Wie sonst lässt sich erklären, dass seit September in Belgrad Polizeikräfte aus China mit serbischen Einheiten patrouillieren?

Was muss noch passieren, damit die EU-Mitglieder begreifen, dass sie rasch eine neue Sicherheitsarchitektur entwerfen müssen, um nicht Spielball kleiner und großer Machtinteressen zu werden? Auf der Weltbühne herrscht längst eine multipolare Unordnung, und die EU-Mitglieder müssen entscheiden, ob sie das Aufräumen autoritären Akteuren überlassen oder selbst wieder eine aktive Rolle übernehmen wollen, die demokratischen und liberalen Werten folgt. Europa muss mit Russland einen Mittelweg zwischen Konfrontation und Kooperation finden und China gegenüber seine geopolitischen Interessen durchsetzen können. Allein die Wahrnehmung von Europa als Kontinent in der Krise, als "Welt von gestern" schwächt unsere Position in Verhandlungen.

Wir müssen uns von der bisherigen "edlen Zurückhaltung" - böse Zungen sprechen von sicherheitspolitischer Trittbrettfahrerei - verabschieden. Die designierte EU-Kommissionspräsidentin hat in ihrer "Agenda für Europa" klargemacht, dass Europas Institutionen bereitstehen, um ein integriertes und umfassendes Sicherheitskonzept auf die Beine zu stellen. Dazu müssen aber die Mitgliedstaaten und damit auch Österreich endlich den Ernst der Lage erkennen und handeln.

Alpbach-Dialog: "Europa in der Welt: Zwischen USA, Russland und China"

mit Brigadier Walter E. Feichtinger (Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement), Velina Tchakarova (Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik) und Franz Stefan Gady (EastWest Institute)

Dienstag, 15. Oktober, 18.30 Uhr
Berio-Saal im Wiener Konzerthaus, Lothringerstraße 20, 1030 Wien

Eintritt frei - Info & Anmeldung