Laut WHO ist Suizid die häufigste Todesursache weltweit - alleine in Österreich nehmen sich 1200 Menschen pro Jahr das Leben. Im vorigen Dezember war einer davon unser Sohn Tobias. Heuer besuchen wir zu Allerheiligen also nicht mehr nur die Gräber früherer Generationen, sondern auch jenen Ort, an dem unser Bub nun zuhause ist.

Golli Marboe (geboren 1965) ist Vater von vier Kindern, Journalist,ehemaliger Film und TV Produzent, heute Vortragender und Dozent zu Medienfragen. - © Ursula Hummel-Berger
Golli Marboe (geboren 1965) ist Vater von vier Kindern, Journalist,ehemaliger Film und TV Produzent, heute Vortragender und Dozent zu Medienfragen. - © Ursula Hummel-Berger

Unter liberalen Menschen ist das Recht auf den "Freitod" immer Thema und für viele auch Option. Gerade fantasiebegabte Männer und Frauen sehen nicht nur das Konstruktive oder das Schöne, sie spüren und erleiden in ihrer Arbeit auch das Destruktive und stehen wohl öfter als andere vor Abgründen. Diese Ambivalenz zeigt sich an nahezu allen Künstlerbiografien, auch an der unseres Sohnes. Und neben dieser Prädisposition kreativer Menschen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Phänomene entwickelt, die eine existenzbedrohende Einsamkeit der jungen Erwachsenen verstärken: der Zerfall klassischer Bezugssysteme, wie Kirchen oder politischen Gruppen, sowie die Tatsache dass die Orientierungssuche junger Menschen länger dauer als früher und auf eine Zunahme psychischer Krankheiten und psychotischer Schübe trifft.

Selbstverständlich muss man den längst nicht mehr nachvollziehbaren Strukturen der politischen Parteien und der moralisierenden Kraft der Kirchen aus dem vorigen Jahrhundert nicht nachweinen. Aber durch deren Bedeutungsverlust sind gerade jüngeren Menschen zwei wichtige Alltagsphänomene verloren gegangen, nämlich das Gemeinschaftsgefühl unter Gleichgesinnten und die Wertschätzung außerhalb der Familie - das Gefühl, "dazu zu gehören". Man kann gerade als junger Mensch die Hilfsangebote oder auch das Lob aus der Verwandtschaft nie wirklich als werthaltig annehmen. Man denkt sich, diese sei nicht objektiv, sondern der Liebe unter Freunden, Verwandten oder der Eltern-Kind-Beziehung geschuldet.

Kirchen und Parteien folgten Weltanschauungen. Man kann in diesen Gemeinschaften - wenn man ihnen angehört - auch dann Wertschätzung erfahren, wenn man nicht den Meinungen der Mehrheitsgesellschaft folgt. Die Sozialistische Jugend hat Platz für Menschen, die den Besitz eines Porsches eben nicht zum Lebensziel erheben, oder die Caritas bietet den Ort für eine Entwicklungszusammenarbeit auch in Regionen, wo Menschen andere kulturelle Prägungen haben als Lederhosen und verschneite Berggipfel.

Kaum Wertschätzung für Künstler

Die Arbeit von Künstlern (wie Tobias einer war) oder von Journalisten wurden in den vergangenen Jahrzehnten kaputt geredet. Zunächst von Populisten wie Jörg Haider, heute von jenen, die damit argumentieren, Populisten dadurch verhindern zu wollen, indem sie deren Positionen in weiten Teilen übernehmen. Wo bietet unser Land die Artikulationsflächen für die, die anders sind und vielleicht schon heute über solche Dinge nachdenken, die wir dann in Zukunft als mehrheitsfähig erachten werden? Dafür gibt es kaum Wertschätzung. Aus dem Mangel an Wertschätzung entsteht Traurigkeit. Und aus der Traurigkeit oft Depression. Und aus solchen Depressionen können - je nach Veranlagung - eben psychotische Schübe folgen, die dann letal enden. Ein fataler Zustand des "Ich-Zerfalls" nimmt seinen Lauf.

Dass die Orientierungssuche junger Menschen heute länger dauert als früher, hat mit dem Wohlstand in Europa zu tun. Junge können sich der Ausbildung in Ruhe widmen und (sich) "ausprobieren". Einerseits werden unsere Kinder also gut versorgt - und sie sind es auch gewohnt, versorgt zu werden -, andererseits ist gerade jenen jungen Menschen aber nur das wertvoll, was sie aus eigener Kraft erreichen. Fantasiebegabtere werden sich deshalb von der Betreuung der Eltern früher lösen wollen, weil es Ihnen ihr Stolz einfach nicht erlaubt, "Almosenempfänger" zu sein. Gleichzeitig messen sich aber solche "Künstlertypen" trotzdem mit den Leben ihrer Freunde und Verwandten, die vielleicht gut verdienen, während sie selbst nach wir vor im Präkariat stecken. Dieses Dilemma gilt für die Berufssuche genauso wie für die Partnersche.

Eine lange Orientierungsphase impliziert die Option, man könnte etwas "Perfektes" finden. Alles andere als das Perfekte ist zuwenig. Das Bemühen trifft auf Hochmut und Stolz. Das Scheitern ist programmiert, denn ohne Beruf und ohne Partner gilt man in unserer Gesellschaft nichts. Wenn man Bilder malt, Texte schreibt, Filme gestaltet oder Taschen designt, sich diese Dinge aber (wie bei unserem Sohn) nicht monetarisieren lassen, dann gilt das als Scheitern.

Bedingungsloses Grundeinkommen statt des Diktats des Geldes

Farben, Melodien, Gefühle – die immateriellen, die nicht in Worte zu fassenden Dinge bedeuten doch aber eigentlich so viel mehr in unserem Leben, als das, was wir auf dem Konto haben. Das wissen wir alle, aber wir handeln anders. Denn es ist einfach, die Leben anderer in möglichst gut messbare Einheiten einzuteilen. Für jede und für jeden gleich und objektiv. Die Abrechenbarkeit des Lebens – das Diktat des Geldes zerstört die wertvollsten und wunderschönsten Dinge, die die Menschheit je hervorgebracht hat: Kunst, Liebe und Freiheit. Wirtschaftsinteressen zählen in jungen dynamischen Gesellschaften - wie unter Türkis-Blau - einfach mehr als Menschlichkeit.

Ja, das soziale Klima in unserer Gesellschaft ist mitverantwortlich für jene Toten, die sich das Leben genommen haben. Es ist wahrlich nicht nur das Umfeld von Freunden und Angehörigen oder das persönliche Unvermögen der Betroffenen verantwortlich für den Suizid eines Menschen. Das freiwillige Ausscheiden aus unserer Welt hat auch mit dieser Welt zu tun. Es braucht eine wertschätzende Atmosphäre

Was könnte wir tun, damit die Anzahl derer, die vereinsamen, sinkt? Wirtschaftliche Not darf in unserem Land kein Grund für Depression sein. Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre nicht dazu da, um "Faulenzer" zu unterstützen, sondern könnte die größte "Talentefördereinrichtung" werden, die eine Gesellschaft imstande ist zu ermöglichen: für den Schmetterlingssammler, die Flamencotänzerin, den Dampflokomotivenfreund, die auf unheilbare Krankheiten spezialisierte Forscherin, alle die lästigen Querdenker, die Journalisten, die Wissenschafter, die Aktivistinnen bei NGOs. Sie müssten ihre Zeit nicht mehr mit den deprimierenden Gedanken daran verbringen, wie sie Miete und Essen zahlen können. Sie alle würden unsere Gesellschaft reicher und vielfältiger machen, weil sie ihren Talenten und nicht dem Geld folgen müssten. Geld ist ja bekanntlich die häufigste Ursache für Verbrechen. Warum also nehmen wir diesem Fetisch nicht durch ein bedingungsloses Grundeinkommen die Spitze?

Schilderungen als Suizid-Prävention

Ein zweiter Paradigmenwechsel steht an. Die Angst vor Immitation, die uns seit Jahrzehnten den öffentlichen Dialog über Suizide auf das mindeste reduzieren lässt: Der sogenannte "Werther Effekt" sollte durch den "Papageno-Effekt" ersetzt werden. Denn inzwischen ist erwiesen, dass gerade die Schilderung von positiven Lebenswegen nach suizidalen Gedanken einen Nachahmungseffekt hervorrufen kann: wenn in Beispielen aufgezeigt wird, wie das Leben nach einem schrecklichen Tief wieder Hoffnung und Sinn bekommt. So wie eben in der "Zauberflöte" für Papageno, der dann auf seine Papagena trifft.

Außerdem sollten Hinterbliebene von ihren Stunden nach dem Verlust eines Angehörigen erzählen. Es ist die größte Tragödie, die Eltern, engen Freunden und Verwandten widerfahren kann. Aber ganz bestimmt möchte keiner, der sich das Leben nimmt, damit auch das Leben der meist so geliebten nahen Menschen verletzen. Das passiert aber unweigerlich. Und zwar nachhaltig. Auch davon muss erzählt werden, damit jedes suizidale Gefühl auch damit verbunden wird, dass man nicht nur dem eigenen Leben ein Ende setzt, sondern eben auch anderen Menschen sehr weh tut und deren Leben unweigerlich in eine tiefe Sinnkrise stürzt.

Unser Sohn Tobias könnte noch am Leben sein. Einerseits, wenn wir seine psychotische Veranlagungen früher und besser erkannt hätten, und andererseits, wenn wir in einer Gesellschaft leben würden, in der man Außenseiter und Künstler einfach mehr achten und deren Rolle in unserem Land auch wertzuschätzen wüsste.

Hilfe bei Suizidgedanken:
www.gesundheit.gv.at/leben/suizidpraevention

Rat auf Draht: Tel. 147
www.rataufdraht.at

Telefonseelsorge: Tel. 142
www.telefonseelsorge.at

Österreichische Gesellschaft für Suizidprävention:
www.suizidprävention.at