Zum Hauptinhalt springen

Das Ende einer spektakulären Ära

Von Peter Brezinschek

Gastkommentare

Als EZB-Chef war Mario Draghi ein Meister der Krisenbewältigung, der Kommunikation und der Schuldnerhilfe.


Mario Draghi hat seine achtjährige Amtszeit so beendet, wie er sie begonnen hatte: mit einem Paukenschlag. Er war nur eine Woche im Amt, schon dirigierte er den EZB-Rat, das entscheidende geldpolitische Gremium für die Eurozone, am 9. November 2011 zu einer ersten Zinssenkung. Einen Monat später folgte gleich die zweite. Sein Befund deckte sich mit vielen Marktbeobachtern, die Eurozone tauchte erneut in eine Krise, die in großen Renditeunterschieden von mehr als 500 Basispunkten zwischen Süd-Euroländern und den Kern-Euroländern rund um Deutschland sichtbar wurde.

Draghi erkannte aber auch, dass die Staatsschulden- und erneute Wirtschaftskrise in der Eurozone nicht bloß mit herkömmlichen Zinssenkungen bewerkstelligt werden konnte. Als selbst langfristige Liquiditätshilfen für die Banken die Märkte nicht beruhigen konnte, folgten am 26. 7. 2012 seine berühmten Worte: "Die EZB ist bereit, im Rahmen ihres Mandats alles zu tun, was nötig ist, um den Euro zu retten. Und glauben Sie mir, es wird genug sein!" Die Überzeugungskraft seiner Worte rettete die Eurozone aus ihrer schwersten Krise, ohne dass Draghi das neu konzipierte Staatsanleihekaufprogramm (OMT) jemals einsetzen musste. Es war daher der Entschlossenheit des EZB-Präsidenten zu verdanken, dass die Eurozone sich nach und nach wieder erholen konnte.

Stete Präsenz als Krisenfeuerwehr Europas

Aber da war noch ein kranker Patient namens Griechenland, der 2015 mit einem Regierungswechsel für großen Aufruhr sorgte. Um den zaghaft begonnenen Aufschwung nicht zu gefährden, packte Draghi das für die Eurozone erstmalige "Quantitative Easing" aus seinem Instrumentenkasten. Am Ende hatte die EZB bis zu 2,6 Billionen Euro an Staats- und Unternehmensanleihen angekauft, um "Deflation und Rezession" zu verhindern, wie es offiziell hieß. Damit kann Draghi mit voller Bewunderung als Meister der Krisenbewältigung bezeichnet werden. Keine Institution in Europa war stets so präsent als Krisenfeuerwehr unterwegs wie die EZB. (Natürlich hat man das Verbot der Staatsfinanzierung durch die Notenbank ausgehebelt, denn ob am Primär- oder am Sekundärmarkt Anleihen gekauft werden, ist eine Frage von Sekunden oder Minuten, bis ein Erstkäufer diese Anleihen der EZB weiterverkauft. Draghi nahm das zur Sicherung der Eurozone bewusst in Kauf.)

Durch die ständige Präsenz der EZB wurde aber auch der Eindruck erweckt, die Notenbanken seien "Alleskönner". Sie fühlen sich für Konjunkturentwicklung, Inflation, Arbeitsmärkte, Schuldenpolitik und Finanzmärkte zuständig. Jüngst forderte Draghi die Regierungen auf, fiskalpolitisch aktiv zu werden. Nichts verkörpert die Grenzen der Geldpolitik deutlicher als dieser Aufruf. Tatsache ist, dass die EZB und andere Notenbanken für den aktuellen Konjunkturabschwung nicht verantwortlich sind. Das sind Donald Trump, Xi Jinping oder Boris Johnson. Aber Draghi vermittelte bei den Kapitalmarktteilnehmern den Eindruck, die EZB könne alles. Er gilt sicher auch als Meister der Kommunikation. Er transportierte den Finanzmärkten das, was er umsetzen wollte. Kaum einer zuvor hat das Instrument der "Forward Guidance" so perfektioniert wie er. Denn um die von ihm über Reden induzierten Markterwartungen nicht zu enttäuschen, wurden diese in den EZB-Ratssitzungen ausführlich behandelt und entsprechende Beschlüsse gefasst. Die EZB-Konferenzen im portugiesischen Sintra im Juni dienten Draghi als Bühne, nicht selten auch für Aussagen, die seine EZB-Ratsmitglieder überraschten. Nicht zuletzt Draghis Auftritte haben Sintra an Medienaufmerksamkeit zum altehrwürdigen "Jackson Hole"-Notenbankmeeting aufschließen lassen.

Konjunkturzyklus ohne passenden Zinszyklus

Neben seinen großen Meriten muss sich Draghi aber auch gefallen lassen, dass er der erste Notenbankchef ist, der einen Konjunkturzyklus ohne passenden Zinszyklus hinterlässt. Er hat es zweifelsfrei versäumt, in der Phase der Hochkonjunktur 2017 aus dem Negativzinsumfeld zurückzukehren. "Wir haben eine ausgezeichnete Konjunktur, aber eine Geldpolitik im Krisenmodus", kritisierte auch Ex-OeNB-Gouverneur Ewald Nowotny. Dabei hatte Draghi die Einführung eines negativen Einlagesatzes 2014 mit einer zeitlichen Befristung angekündigt: "Die EZB will Zeit gewinnen, damit die Regierungen notwendige Reformen durchführen können." Dieser Plan ging nicht auf, denn unter Draghi wurde das Schuldenmachen zum Geschäftsmodell. Warum sollen Regierungen durch harte Budgetsanierungen ihre Wiederwahl aufs Spiel setzen? Selbst Spanien und Italien können mit kurz- und mittelfristigen Anleihebegebungen Geld verdienen. Insofern war Draghi ein Meister der Schuldnerhilfe.

Draghi fürchtete sich auch in der Hochkonjunktur ständig vor Deflation. Die enge Auslegung des Inflationsziels von unter, aber nahe 2 Prozent teilten auch mehrere EZB-Ratsmitgliedern nicht. Warum soll in einem schwächeren Wirtschaftsumfeld eine Preisänderung von plus 1 Prozent schlechter sein als eine von plus 1,9 Prozent? Einem Normalbürger zu erklären, warum seine Kaufkraft zu hoch ist und er mehr für seine Konsumausgaben zahlen soll, blieb Draghi schuldig. Die Kerninflation kam auch nie in die Nähe der Nullmarke. Und viele Güter weisen Preissenkungen auf, ohne dass es Kaufaufschübe gibt, wie bei technischen Geräten. Es ging ihm vielmehr um die Inflationierung der Schulden um jeden Preis. Da waren auch die negativen Effekte auf Pensions- und Versicherungssysteme sowie Bankenprofitabilität nebensächlich.

Draghi hat seiner Nachfolgerin Lagarde die Hände gefesselt

Dass jetzt mehr als 16 Billionen Euro an Staatsanleihen und 30 Prozent der in Euro denominierten Unternehmensanleihen mit guten Ratings mit negativen Renditen gehandelt werden, ist unter anderem Draghis Negativzinspolitik zuzuschreiben. Aber nicht nur die Anleihemärkte sind markant überbewertet, auch auf Aktien- und vor allem Immobilienmärkten sind Blasenbildungen im Gange, wie er als Vorsitzender des Financial Stability Boards im Sommer 2019 zugeben musste.

Und so ließ der scheidende EZB-Präsident am 12. September bei seiner vorletzten Ratssitzung noch einmal die Muskeln spielen. Das umfassende Maßnahmenbündel mit einer erneuten Zinssenkung, gespaltenem Einlagensatz, Neuaufnahme von "Quantitative Easing", erleichterten Liquiditätshilfen (TLTRO) und geänderter "Forward Guidance" hat aber auch die Spaltung des EZB-Rates offenkundig gemacht. Vor allem mit der Aussage, "die Zinsen auf aktuellem Niveau oder tiefer" zu halten, bis sich die Inflationsrate nachhaltig dem Zielwert nähere, hat der abgetretene EZB-Chef seiner Nachfolgerin Christine Lagarde für die kommenden Jahre die Hände gefesselt. Es bleibt abzuwarten, wie die gewiefte Politikerin Lagarde den Ausgleich zwischen den "Zinsnormalisierern" wie Jens Weidmann (Deutsche Bundesbank) und den "ultra-expansiven Geldpolitikern" wie Philip Lane (Irische Zentralbank) schafft. Die EZB bleibt auch nach Draghi im Zentrum der Konjunktur und Finanzmärkte.