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Rot und Spiele

Von Michael Bröning

Gastkommentare

Die Stichwahl über den Vorsitz der deutschen Sozialdemokraten gerät zu einem erneuten Referendum über die große Koalition. Das aber lenkt von den eigentlichen Fragen ab.


Wenn es so etwas wie ein heiliges Glaubensbekenntnis der deutschen Sozialdemokratie gibt, dann ist dies Willy Brandt Versprechen, "mehr Demokratie zu wagen". Vor genau 50 Jahren bekannte sich der deutsche Bundeskanzler in seiner ersten Regierungserklärung zu diesem Ziel, und seitdem mag kaum eine sozialdemokratische Grundsatzrede auf diese Formel verzichten.

Mehr Demokratie wagen: Wenn es alleine danach ginge, hätten die deutschen Genossen in ihrer aktuellen Mitgliederbefragung zum neuen SPD-Vorsitz zumindest auf den ersten Blick alles richtig gemacht. Nach dem überstürzten Rücktritt von Andrea Nahles Anfang Juni entschied die Parteiführung, den Ball direkt zu den Mitgliedern zu spielen. Sie sollten in einem basisdemokratischen Prozess direkt die Nachfolge bestimmen. Das Ziel: der größtmögliche symbolische Bruch mit dem berüchtigten Hinterzimmer.

Stattdessen zog es die Bewerber auf mehr als zwei Dutzend Regionalkonferenzen, in denen die Kandidaten im Vorfeld der Abstimmung ihre Vorstellungen präsentierten. Vergangenen Samstagabend wurde das Ergebnis verkündet: Keines der Teams erhielt auch nur ein Viertel der Stimmen. Mitte November kommt es daher zu einer Stichwahl zwischen Vizekanzler Olaf Scholz mit seiner Co-Kandidatin Klara Geywitz und dem zweitplatzierten Duo des ehemaligen Finanzministers von Nordrhein-Westfalen, Norbert Walter-Borjans, und seiner Mitbewerberin Saskia Esken. Anfang Dezember soll ein Parteitag das letzte Wort haben. Viele aktive Parteimitglieder sind von dem Prozess begeistert. Rund 20.000 kamen zu den regionalen Konferenzen, immer wieder mussten die Veranstaltungen wegen des hohen Andrangs in größere Hallen verlegt werden.

Schlag in die Magengrubestatt Aufbruchsstimmung

Hat sich das Brandt-Diktum als Leitfaden also bewährt? Eine ehrliche Zwischenbilanz muss zwiespältig ausfallen. Denn am Samstag wurde klar, dass am Ende nur jeder zweite Genosse überhaupt an der Abstimmung teilnahm - und das, obwohl das Votum online mit nur wenigen Mausklicks zu erledigen war. Noch bezeichnender aber: Von Aufbruchsstimmung über den Kreis der Parteigrenze hinaus kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Am Sonntag kassierten die Sozialdemokraten erneut einen Wählerschlag in die Magengrube. In Thüringen sanken sie auf historisch schlechte 8 Prozent.

Parteistrategen hoffen nun, dass sich der Wind im jetzt anstehenden zweiten Wahlgang dreht, was maßgeblich von den Fragen abhängen dürfte, die dabei debattiert werden. Nur: Nach aktuellem Stand der Dinge dürfte es nicht um Fragen im Plural, sondern eher um eine einzige Frage gehen: die Zukunft der großen Koalition. Das Team Scholz/Geywitz steht dabei für Kontinuität, das Team Borjans/Esken für den Bruch. Die Vorsitzendenwahl gerinnt also zum GroKo-Plebiszit. Damit steuert die Sozialdemokratie nun auf genau die Debatte zu, die sie schon 2013 und 2018 in Mitgliederbefragungen zur Wahl stellte.

Problematisch ist das nicht nur, weil die erneute Debatte die Partei eher spalten als zusammenbringen dürfte, sondern auch, weil sie eine dringend erforderliche Auseinandersetzung über inhaltliche Fragen eher blockiert als fördert. In vielerlei Hinsicht ist ein erneuter erbitterter GroKo-Streit eine einzige unergiebige Ablenkung. In aktuellen Umfragen bekennt ein Großteil der Wähler, nicht einschätzen zu können, wofür die Sozialdemokratie heute noch steht. Der dritte Aufguss der GroKo-Frage ist vor diesem Hintergrund genau die falsche Debatte zur richtigen Zeit.

Eine inhaltliche Leerstellein den Debatten

Sicher, die wahrgenommene Profillosigkeit ist für GroKo-Gegner ja gerade eine Folge der dauernden Regierungskompromisse - und damit liegen sie nicht generell falsch. Doch die grundlegenden Probleme liegen tiefer. Wie derzeit bei vielen Schwesterparteien in Europa ist die Implosion der Sozialdemokraten in Deutschland zum großen Teil dem Unvermögen geschuldet, auf kulturell eingefärbte gesellschaftliche Großkonflikte überzeugende Antworten zu formulieren. Das Ausmaß dieser Leerstelle ließ sich in der Debattentournee vermessen. Denn wer in der Konferenzserie auch nur einen einzigen wirklichen Schlagabtausch über die Zukunft der Europäischen Union, eine faire Gestaltung von Migration, zum Thema Integration oder etwa zum Verhältnis zu Russland erhofft hatte, wurde enttäuscht. Wie bei einem Eisberg blieben solche Fragen unter der Wasseroberfläche. Dieses Schweigen aber belegt, dass gerade Teile der aktiven Partei derzeit entweder nicht über die Kraft verfügen, diese Politikfelder ernsthaft zu bearbeiten, oder nicht über das Sensorium, sie überhaupt als relevant zu erachten. Nur: Welcher Befund ist der kritischere?

Und noch eine weitere Gefahr zeichnet sich ab: Werden die Sozialdemokraten in der Lage sein, das Ergebnis zu verkraften? Auf die Frage "Ja" oder "Nein" zur Koalition kann schwerlich dauerhaft mit einem Formelkompromiss geantwortet werden. Dann aber ist zu fragen, ob das unterlegene Lager die Empfehlung der Mehrheit folgsam umsetzen wird. Werden sich die Abgeordneten des Bundestags im Fall eines "Neins" wirklich selbst aus dem Parlament katapultieren und einen GroKo-Bruch auch gegen eigene Überzeugungen und berufliche Perspektiven durchsetzen? Sie sind schließlich nicht der Partei, sondern nur ihrem Gewissen verpflichtet. Und fraglich ist auch, ob sich die Parteitagsdelegierten im Dezember dem Mitgliedervotum ohne weiteres anschließen werden.

Bisher werden solche Szenarien in der Partei noch als abwegig abgetan. Dabei verdeutlicht gerade der Blick nach Europa, als wie realistisch sie sich erweisen könnten. In Großbritannien bestimmte die britische Labour-Partei vor vier Jahren per Mitgliedervotum den sozialistischen Hinterbänkler Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden. Die Folge war ein offener Bürgerkrieg zwischen Partei und Fraktion, der die Handlungsfähigkeit von Labour massiv beschädigte. Und auch der Dauerstreit im britischen Parlament nach dem Brexit-Votum belegt, dass das Abnicken direktdemokratischer Vorgaben durch Mandatsträger eben kein Selbstläufer ist. Steuert die Sozialdemokratie hier also unbeabsichtigt auf britische Verhältnisse zu?

Angesichts dieser Fragen steht nicht nur die Zukunft der deutschen Bundesregierung, sondern auch jene der Sozialdemokraten in den Sternen. Genau 50 Jahre nach dem wegweisenden Versprechen Brandts könnte sich in den kommenden Wochen dabei zeigen, dass die Genossen zwar tatsächlich mehr Demokratie gewagt - aber am Ende kaum etwas gewonnen haben.