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Ein Mahnmal für die Freiheit

Von Philipp Jauernik

Gastkommentare
Philipp Jauernik ist Experte für Außenpolitik- undSüdosteuropafragen. Der Historiker ist außerdem Bundesvorsitzender derPaneuropajugend Österreich und Chefredakteur des Magazins "Couleur".
© Lahousse

Nazi-Putsch 1923, Reichspogromnacht 1938, Mauerfall 1989: Der 9. November als mehrfach geschichtsträchtiges Datum verlangt nicht nur in Deutschland ein ehrliches Gedenken.


Der 9. November als Jahrestag des Falls der Berliner Mauer erinnert uns auch heute wieder daran, dass Friede, Freiheit und Gemeinschaft keine Selbstverständlichkeit sind. Unsere Generation ist gefordert, dies als geistiges Erbe und als Auftrag zu verstehen.

Unglaublich, wie sie auch heute noch bewegen, diese Bilder vom 9. November 1989 aus Berlin. Menschen, die einander um den Hals fallen und gemeinsam feiern. Die Emotionalität ist auch dann spürbar, wenn man nicht direkt betroffen scheint, also etwa als "spätergeborener" Österreicher. Wie viel stärker muss sie dann erst für die Bürger des über Jahrzehnte geteilten Berlin gewesen sein, die mit dem Mauerbau von jetzt auf gleich voneinander abgeschnitten waren?

Der Mauerbau läutete eine der kältesten Phasen des Kalten Krieges in Europa ein. Die Mauer spaltete nicht nur Ost- und West-Berlin, nicht nur das schon zuvor geteilte Deutschland, sie war auch eine Trennlinie durch Freundschaften, ja, durch Familien. Wer den sogenannten Tränenpalast am Berliner Bahnhof Friedrichstraße besucht, der heute eine sehr gut aufbereitete Gedenkstätte ist, kann die unglaubliche Trauer und Angst der Menschen, die hier nur mit Ausnahmegenehmigung und ohne Aussicht auf ein Wiedersehen kurz ihre Lieben treffen konnten, vielleicht in Ansätzen nachvollziehen. Erfassen kann man derlei in seiner Tiefe nie.

Ein Keil durch die Gesellschaft

Unvorstellbar ist für den Besucher die Grausamkeit des Regimes, das seine Untertanen (von Bürgern kann man in der DDR nicht sprechen, wenn man den Begriff im Sinne eines vollwertigen Mitglieds einer Gesellschaft interpretiert) auch seelisch drangsalierte. Erschütternd sind die Ergebnisse, die die Stasi-Aufarbeitungsstelle auch heute noch liefert. Die Methoden waren von brutal bis subtil mannigfaltig. So drang die Stasi etwa auch in Privatwohnungen ein, während die Bewohner nicht da waren, und verschob dort einzelne Möbel. Wer im Freundeskreis erzählt, man hätte ihm die Möbel verrückt, der wird schnell für psychisch krank gehalten. So trieb das Regime auf subtile, aber wirkungsvolle Art, auch einen Keil durch die Gesellschaft.

Die Zahl der Mauertoten, der Stasi-Häftlinge, der politisch Ermordeten - all das sind Fakten, die auch heute noch aufzuarbeiten sind. Täglich wird das Wissen mehr, täglich wird deutlicher, welche Grausamkeit dieses Unrechtsregime an den Tag legte. Umso erschreckender sind die Versuche der Verharmlosung. Besonders der Begriff "Unrechtsstaat" wird von Freunden des SED-Regimes in Zweifel gestellt. Sie argumentieren, es hätte ja Wahlen und Gerichte gegeben. Dabei wird verschwiegen, dass die Wahlen nur Show der Einheitspartei SED waren, dass die Gerichte selten unabhängig entscheiden durften und, was wohl entscheidend ist, dass es keinerlei Voraussetzungen brauchte, um von der Stasi verschleppt zu werden.

In einem Rechtsstaat wird niemand eingesperrt, ohne dass ein ordentliches, unabhängiges Gericht entschieden hat und dem oder der Angeklagten das Recht auf Verteidigung und Berufung eingeräumt wurde. Die Stasi-Gefängnisse (inklusive physischer und psychischer Folter - ebenfalls keine Kennzeichen eines freien, demokratischen Rechtsstaates) waren voll von Häftlingen, die von der Außenwelt abgeschirmt waren und die nicht wussten, wo sie sind, ob sie wieder rausdürfen und was man ihren Familien gesagt hat - geschweige denn, ob diese wenigstens in Sicherheit sind.

Die klarste Antwort auf die Frage nach Rechts- oder Unrechtsstaat liefert das Berlin zerteilende Bauwerk selbst. Ein Staat, in dem Recht, Gerechtigkeit und Freiheit herrschen, braucht keine Mauer, um seine Bewohner einzusperren. Aus einem freien Land laufen die Menschen nicht in Scharen davon - aus der DDR versuchten das Tausende. Viele bezahlten den Versuch mit ihrem Leben. An der Berliner Mauer wurde genauso geschossen wie an den sonstigen Teilen des Eisernen Vorhanges. Es ist gut und richtig, dass heute, am 30. Jahrestag des Mauerfalles, der Opfer gedacht wird. Sie verdienen es, und es ist das Mindeste, was wir, die wir großteils in Frieden und Freiheit aufwachsen und leben durften und dürfen, heute noch für sie zu tun haben.

Ein elementarer Gedenktag für ganz Mitteleuropa

Das allein genügt aber nicht. Der 9. November ist als Gedenktag noch tiefergreifend. An diesem Tag fand 1923 in München der Hitler-Ludendorff-Putsch statt, mit dem die Nationalsozialisten erstmals nach der Macht griffen und der die braune Gefahr erstmals einer breiteren Öffentlichkeit sichtbar machte. Genau 15 Jahre später kam es zu einem unglaublich grausamen Pogrom, das die Nazis euphemistisch "Reichskristallnacht" nannten. Diese bezeichnet den Tiefpunkt eines mehrtägigen Sturmes, im Zuge dessen jüdische Geschäfte und Einrichtungen demoliert und Synagogen in Brand gesteckt wurden. Hunderte Juden in Deutschland und im angeschlossenen Österreich wurden innerhalb dieser wenigen Tage ermordet. Spätestens hier wird klar, dass der 9. November auch hierzulande ehrliches Gedenken verlangt, denn auch bei uns gab es viele Täter.

Es ist schier unglaublich, wie viele bedenkenswerte Schlüsselereignisse des 20. Jahrhunderts sich an einem einzelnen Datum, dem 9. November, ereigneten. Ob das Zusammentreffen Zufall ist oder nicht, sei dahingestellt. Aber ganz eindeutig ist heute festzuhalten, dass dieser Tag als Gedenktag von elementarer Bedeutung für ganz Mitteleuropa ist.

Die Tränen der Freude der wiedervereinten Freunde und Verwandten am Brandenburger Tor, die Tränen der Angst und Verzweiflung an den geschlossenen Grenzen zwischen Ost und West, am Eisernen Vorhang, die Tränen der Witwen, Witwer und Waisen der Mauertoten und der Opfer der Reichspogromnacht und der Angehörigen von Millionen politisch Verfolgten und Ermordeten in ganz Europa im so blutigen 20. Jahrhundert sollten uns eine Lehre und eine Anleitung sein, uns für das Richtige einzusetzen.

Schlüsselpersonen beim Zusammenwachsen Europas

Wir können uns dabei als Leitlinie jene nehmen, die das friedliche Wiederzusammenwachsen Europas ermöglicht haben. In diesen Tagen wird dabei oft der damalige Sowjetpräsident Michail Gorbatschow gelobt. Seine Besonnenheit in der Deutschland-Frage bewahrte Europa vor einem weiteren großen Krieg - auch wenn die Ereignisse nicht das widerspiegeln, was er wollte. Im Baltikum war er später wesentlich weniger besonnen - dort floss lettisches und litauisches Blut, als die bereits nahezu tote Sowjetunion noch einmal erfolglos versuchte, ihre Unterdrückungsherrschaft zu bewahren.

Nahezu vergessen wird aber oft die Rolle anderer Persönlichkeiten. Helmut Kohl wurde wenigstens erwähnt. Die Bedeutung des jahrelangen Kampfes des aus Polen stammenden Papstes Johannes Paul II. ist größer, als sie heute oft wahrgenommen wird. Unbeirrbar gab er den Christen in der damaligen Sowjetunion eine laute Stimme, die, so soll der damalige Außenminister der UdSSR, Eduard Schewardnadse, eingeräumt haben, möglicherweise die Hauptrolle beim Umbruch im Ostblock spielte. Und Otto Habsburgs Politik des leeren Stuhls im EU-Parlament gab Dissidenten im gesamten Ostblock und in Jugoslawien Hoffnung.

Nicht unter den Tisch fallen sollte auch die klare Haltung der US-Präsidenten John F. Kennedy und Ronald Reagan, die als Militärmacht für die Sicherheit West-Berlins garantierten und deren bedeutsame Reden am Brandenburger Tor das deutliche Signal nach Moskau schickten, dass die Freiheit der Stadt unter den Augen der gesamten Weltöffentlichkeit verteidigt werden würde.

Friede und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeit. Sie wurden blutig erkämpft und mit viel Leid errungen und erwartet. Unsere Generation steht in der Verantwortung, ja geradezu in der Pflicht, genau diese Freiheiten jeden Tag aufs Neue zu verteidigen.