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Das Dilemma britischer Wechselwähler

Von Liam Hoare

Gastkommentare
Liam Hoare (geboren 1989 in Crawley, Großbritannien) studierte Geschichte an der School of Slavonic and East European Studies des University College London. Er arbeitet als freier Journalist und lebt seit 2017 in Wien. Er ist Europa-Redakteur des "Moment Magazine" und schreibt über Politik und Literatur für britische und amerikanische jüdische Publikationen.
© privat

Die große Qual der Wahl zwischen Tories und Labour in Zeiten des Brexit.


In Großbritannien seine Stimme abzugeben, stellt oft einen Kompromiss dar. Es scheint, als sei die britische Wählerschaft infolge des Brexit-Referendums balkanisiert und die kleinen Parteien wie die Liberal Democrats und die Brexit-Partei seien stärker geworden. Aber es bleibt dabei, dass in den 650 Wahlkreisen, in denen je ein Sitz im Unterhaus nach dem Mehrheitswahlrecht vergeben wird, die Briten tatsächlich nur vor einer Entweder-oder-Entscheidung stehen.

Wo auch immer die Liberalen und die Nationalisten in Schottland und Wales nicht vorkommen, ist der Machtkampf oft der klassische zwischen Links und Rechts, Rot und Blau, Labour und Tories. In diesen hart umkämpften Wahlbezirken zählt jede Stimme. 2017 gewann Labour in Dudley North in Mittelengland mit nur 22 Stimmen Vorsprung vor den Konservativen, und in Southampton Itchen an der Südküste lagen die Tories 31 Stimmen vor Labour. Wer dort eine kleine Partei wählte, warf damit seinen Stimmzettel praktisch weg.

In Dudley North oder Southampton Itchen und ähnlichen Wahlkreisen sind deshalb die Wechselwähler entscheidend, und diese stecken in einer Zwickmühle. Seit Juli führt Boris Johnson eine chaotische, rechtsorientierte Minderheitsregierung an, die die Verfassungsordnung geschwächt und das Land an den Rand eines No-Deal-Brexit gebracht hat. Sollten die Tories bei der Wahl am 12. Dezember eine Mehrheit gewinnen, könnten sie ihr in letzter Minute im August verhandeltes Abkommen im Parlament verabschieden. Jene Wechselwähler, die Brexit-Gegner sind, sollten deshalb nicht für die Tories stimmen.

Andererseits hat Labour endlich eine einheitliche Brexit-Politik. Als Premier würde Jeremy Corbyn ein No-Deal-Szenario ausschließen, das Brexit-Verfahren neu starten und binnen drei Monaten ein anderes, besseres Abkommen einschließlich einer neuen Zollunion mit der EU vereinbaren. Danach fände eine zweite Volksabstimmung statt, und auf den Stimmzetteln stünden dann zwei Optionen: Verbleib in der EU oder Labour-Austrittsdeal.

In Bezug auf den Brexit sowie auf soziale und wirtschaftliche Fragen trennen Labour und Tories Welten. Der Labour-Abgeordnete Neil Coyle hat einmal gemeint, die Probleme der Labour-Partei ließen sich als "ABC" zusammenfassen. Das B darin steht für den Brexit, der allerdings weniger ein Thema ist. Das C steht naturgemäß für Corbyn, dessen Zustimmungswerte aufgrund seiner gefühlten Charakterschwäche, Unentschlossenheit und Stümperhaftigkeit derzeit im Keller sind. Und das A? Das steht für Antisemitismus. In den vergangenen Tagen musste ein Labour-Kandidat wegen eines antisemitischen Einzelfalls, in dem er das Wort "Shylock" benutzt habe, zurücktreten. Es wurde auch berichtet, ein Minister des Schattenkabinetts habe "Hey Jews" statt des Beatles-Lieds "Hey Jude" gesungen. Und ein Labour-Aktivist soll auf Facebook gepostet haben, dass Israel nach einer "jüdischen Endlösung für das Palästina-Problem" suche.

Das Dilemma der britischen Wechselwähler sieht also so aus: Sollen sie sich für die Nationalisten entscheiden oder für die Antisemiten? Für die eine oder die andere Partei zu stimmen, wäre weniger ein Kompromiss als vielmehr ein Pakt mit dem Teufel.