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Für Europas Außenpolitik gilt: Mehr ist weniger

Von Michael Bröning

Gastkommentare
Michael Bröning leitet das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.
© Joanna Kosowska

Ein Ende des Konsensprinzips würde große Staaten auf Kosten der Kleinen stärken.


Wenn sich die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten diese Woche bemühen, das 70-jährige Jubiläum der Allianz ohne Zerwürfnisse zu überstehen, wird hinter den Kulissen auch um ein verwandtes Thema gerungen: die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union.

Dabei geht es nicht so sehr um Finanzierungsfragen als um Entscheidungswege. Die EU-Kommission setzt sich seit geraumer Zeit für ein Ende des Konsensprinzips in der Außenpolitik ein. Sie fordert "qualifizierte Mehrheitsentscheidungen" - und erntet damit zunehmend Beifall gerade in Berlin und Paris.

Zunächst scheint das plausibel. Die Welt braucht ein handlungsfähiges Europa, das rasch auf Herausforderungen reagieren kann. Das zähe Ringen um Einvernehmen ist da nicht gerade effizient. Weshalb also nicht künftig zumindest bei Sanktionen, zivilen Missionen und in der Menschenrechtspolitik auf Mehrheiten setzen?

Doch Skepsis ist angebracht, denn der Plan ist so naheliegend wie brisant. Er würde große Staaten auf Kosten der kleinen stärken, europäische Fliehkräfte erhöhen, die Glaubwürdigkeit Europas untergraben - und dabei kein Problem wirklich lösen.

Zwar fordert derzeit niemand ernsthaft, Beschlüsse über Krieg oder Frieden künftig per Mehrheit in Brüssel zu fällen. Doch auch Mehrheitsvoten zu scheinbar weniger kontroversen Fragen sind heikel.

Beispiel Sanktionen: Werden sich überstimmte Regierungen etwa in Bezug auf Russland wirklich sang- und klanglos fügen - zumal die Umsetzung kaum erzwungen werden kann? Beispiel zivile Missionen: Werden sich Regierungen tatsächlich engagiert an gefährlichen Auslandsmissionen beteiligen, von denen sie letztlich nicht restlos überzeugt sind? Und Beispiel Menschenrechte: Welche Signalwirkung hätten europäische Positionen konkret, wenn sie nur gegen den erklärten Widerstand einzelner Mitglieder durchgesetzt werden konnten?

Die Fragen zeigen: Das Problem liegt nicht in zeitraubenden politischen Prozessen, sondern in häufig legitimen Interessengegensätzen und Unterschieden in der Wahrnehmung. Diese aber können durch Verfahrensänderungen nicht einfach ausgeräumt werden. Wer Skeptiker nicht überzeugt, sondern überstimmt, erzielt alles, aber keine Handlungsfähigkeit.

Das belegen nicht zuletzt die bisherigen Versuche. Im September 2015 beschlossen die EU-Innenminister gegen Widerstand aus Osteuropa eine Umverteilung von Flüchtlingen - und warten noch heute auf die Umsetzung. Die Folgen für die Glaubwürdigkeit sind gravierend. Reicht ein solches Menetekel nicht aus? Zumal die außenpolitische Bilanz Europas viel besser ist als ihr Ruf. Die klare Position zum Brexit, das iranische Nuklearabkommen, aber auch die Geschlossenheit gegenüber Russland - all das gelang ganz ohne Mehrheitsvoten.

Klar ist: Europa muss handlungsfähig werden. Doch es braucht deswegen noch lange keine Hauruck-Diplomatie. Mehr Majoritätsprinzip in der Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet weniger Mitbestimmung. Diesen

Weg sollten sich überzeugte Proeuropäer gut überlegen.