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Es wird nun turbulent werden - und das ist gut so

Von Daniel Haufler

Gastkommentare

Die Demokratie lebt von alternativen Politikangeboten und vom Konflikt. In diesem Sinne haben SPD und AfD mit ihren jüngsten Personalentscheidungen Deutschland einen Dienst erwiesen.


Am vergangenen Wochenende hat die Demokratie in Deutschland eine neue Chance bekommen. Das haben zwei völlig unterschiedliche Parteien mit zwei absolut konträren Entscheidungen erreicht. Auf der einen Seite haben die Sozialdemokraten sich gegen ihr Establishment entschieden, gegen die Bevormundung von oben, gegen eine Endlos-Koalition mit CDU und CSU. Statt Klara Geywitz und Olaf Scholz, den Garanten des Weiter-so in der großen Koalition, haben sie Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als künftige Duo-Spitze der SPD gewählt. Die Sozialdemokraten haben sich damit für einen linken Kurs entschieden - zumindest jedenfalls mehr als ein Viertel der Parteimitglieder.

Auf der anderen Seite hat der Parteitag der sogenannten Alternative für Deutschland (AfD) bestätigt, was Beobachter seit langem konstatieren: Die Rechtspartei ist noch weiter nach rechts gerückt. Alle Kritiker des nationalen "Flügels" um Björn Höcke wurden abgestraft, sprich: nicht wieder in Spitzenämter gewählt. Der Thüringer Faschist setzte sich auf ganzer Linie durch, ohne groß in Erscheinung zu treten. Er hat sich einfach hinter den Kulissen mit dem bisherigen Parteichef Alexander Gauland verständigt, der ja kein Problem hat mit dem völkisch-nationalistischen Rechtskurs von Höckes "Flügel". Jetzt steht der "Flügel" nicht nur "mitten" in der Partei, wie es Gauland gern verschwiemelt ausdrückt, sondern er ist die Mitte der Partei. Es fehlt aus seiner Sicht nur noch die Machtergreifung, zu der ihm die schwächelnde Union verhelfen soll.

Warum ist all das gut für die Demokratie? Weil beide Parteien nun polarisieren - oder es wenigstens könnten. Bei der AfD ist das keine Frage. Wenn sie nicht polarisiert mit extremen Ansichten und der rassistischen Allzweck-Lösung "Ausländer raus", wird sie nicht überleben. Ein richtiges Programm hat sie bis heute nicht. Bei der SPD kann man sich nicht so sicher sein, ob sie sich letztlich zu einem klaren linken Kurs durchringt. Denn die Partei ist in dieser Frage tief gespalten. Nicht umsonst hat fast die Hälfte der Mitglieder gar nicht erst über die künftige Parteiführung abgestimmt. Und von den anderen entschieden sich immerhin 45 Prozent für das Weiter-so.

Doch es spricht einiges dafür, dass die neue sozialdemokratische Parteispitze mit einigen progressiven Forderungen den "GroKo"-Konsens zu Recht in Frage stellen wird. Das Spitzenduo will den Mindestlohn erhöhen, die Vermögensteuer wieder einführen, das Ehegattensplitting durch einen neuen Familientarif mit Kinderbonus ersetzen und mehr in Bildung, Klimaschutz und Digitalisierung investieren. Die Schwarze Null und die Schuldenbremse, sagen Esken und Walter-Borjans, "sind kein finanzpolitisches Programm und kein eigenständiges Ziel". Das ist zwar alles nicht revolutionär, aber immerhin ein linkeres Programm als ein maues Weiter-so.

Die Sozialdemokraten dürfen jetzt nicht stehenbleiben

Doch dabei dürfen die Sozialdemokraten nicht stehenbleiben. Gerade eben erst hat die schwarz-rote Bundesregierung eingestehen müssen: Auf Erbschaften oder Schenkungen von mehr als 10 Millionen Euro werden so gut wie keine Steuern gezahlt. Zwei Drittel der etwa 40 Bürger, die sogar 100 Millionen Euro und mehr erbten oder geschenkt bekamen, zahlten gar nichts an den Fiskus. Wer eine gerechtere Gesellschaft will, muss endlich Erbschaften höher besteuern. In der Folge könnte das im Rahmen einer aufkommensneutralen Reform zu geringeren Abgaben auf Arbeit führen. Es gilt also Kapital deutlich höher zu besteuern und Arbeit geringer. Derzeit gibt es eine Kapitalertragssteuer von 25 Prozent, Einkommen werden hingegen bis zu 45 Prozent besteuert. Ähnlich Disbalancen finden sich auch im Gesundheitssystem. Es gibt also genug zu tun für mehr soziale Gerechtigkeit.

Sollte die SPD sich für einen - vernünftigen und moderaten - Linkskurs entscheiden, der endlich wieder die Arbeitnehmer entlastet und besserstellt, der obendrein breitflächig in eine bessere Bildung investiert und den Agenda-2010-Horror beenden will, dann hätte sie wieder ein unverkennbares Programm. Damit könnte sie dann auch bestehen gegen die radikalen Rechten von der AfD, die bisher viele ehemalige SPD-Wählerinnen und -Wähler für sich gewonnen haben, weil diese sich von der farblosen mittigen Sozialdemokratie nicht mehr vertreten fühlten. Die SPD würde zudem gegenüber der Linkspartei besser dastehen, da sie nicht nur ein linkes Programm hat, sondern nachweislich effektiv regieren kann.

Es bestünde auch nicht mehr das Problem, sich von CDU/CSU abzugrenzen. Die Unions-Christen scheinen ohnehin zur Schwarzen Null zu schrumpfen und obendrein personell nur genau das im Angebot zu haben. Nützlich für eine linke Sozialdemokratie ist auch die aktuelle Zerstrittenheit der Union, in der nicht wenige konservative Nostalgiker sich am liebsten zurück in die Vor-Angela-Merkel-Ära beamen würden. Sollte diese Fraktion weiter an Einfluss gewinnen, wäre links der Mitte noch mehr Platz für die SPD. Das wäre schon deshalb ein Glück, weil bis dorthin das Spektrum der Grünen-Anhänger reicht. Die Grünen haben es geschafft, das derzeit einzig stabile Milieu für sich zu gewinnen: das weltoffene liberale Stadtbürgertum (ergänzt um gar nicht so wenige ökobewusste Bauern), das in den vergangenen Jahren signifikant gewachsen ist. Diese Wähler erreicht die Sozialdemokratie längst nicht mehr. Und sie wird es auch in absehbarer Zeit nicht tun.

Klarere Alternativen im politischen Spektrum

Die Parteienlandschaft differenziert sich aus. Nicht erst seit dem Wochenende. Doch die Entscheidungen von SPD und AfD schaffen klarere Alternativen, nicht nur zwischen den beiden Parteien, sondern im politischen Spektrum. Damit ließe sich eine Phase abschließen, die von der belgischen Politologin Chantal Mouffe schon vor mehr als 20 Jahren "Postpolitik" getauft wurde; eine Phase, in der sie eine Unfähigkeit der traditionellen Parteien konstatierte, "noch irgendwelche signifikanten Alternativen zu präsentieren". Damit erst hätten sie das Tor für rechte Populisten geöffnet. So sah es auch der große Historiker Tony Judt, als er 2010 schrieb: "Eine Demokratie des permanenten Konsenses wird nicht lange eine Demokratie bleiben."

Der Konsens in der Gesellschaft ist seit Jahren allmählich verschwunden, seit der Debatte über die Flüchtlinge 2015 für jeden sichtbar. Die Politik hat diesen Prozess auf der rechten Seite bereits nachvollzogen. Wenn sie es auf der linken nun auch tut, wird das die Bundesrepublik gewiss in Turbulenzen stürzen. Doch der Demokratie an sich wird sie damit einen Dienst erweisen. Anders gesagt: So sieht moderne staatspolitische Verantwortung in unserer Zeit aus.