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Wir waren nicht radikal genug

Von Heinz Högelsberger

Gastkommentare

Schon vor 30 Jahren hätte dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs eine Energiewende folgen sollen. Die Folgen dieses Versagens erleben wir nun als Klimakrise.


Heuer wird des Endes der sozialistischen Staaten in Osteuropa vor 30 Jahren gedacht. Viel war von demokratischen Neuanfängen und der darauffolgenden Ernüchterung die Rede. Manche Aspekte blieben aber weitgehend unterbelichtet: Durch den Wegfall der Systemkonkurrenz trat der Kapitalismus in seiner neoliberalen Form einen weltweiten Siegeszug an. Aus Österreichs "sozialer Marktwirtschaft" wurde eine "freie Marktwirtschaft". Seither sind die Gewerkschaften hauptsächlich damit beschäftigt, zuvor erkämpfte Errungenschaften und damit auch den Sozialstaat zu verteidigen. Die Sozialdemokratie bekommt die Rechnung dafür präsentiert, bei den unheilvollen Programmen zur Liberalisierung und Privatisierung mitgemacht zu haben. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter, die Unterschiede sind mittlerweile wieder so groß wie vor dem Ersten Weltkrieg. Die Gesellschaft wird dadurch polarisiert und gespalten. Die Demokratie (Stichwort: Rechtspopulismus) schlittert in eine Krise.

Energie- und Autokonzerne geben die Richtung vor

Doch seit 30 Jahren sollten wir auch Klimaschutz betreiben. 1990 war nämlich das Bezugsjahr für die Klima-Rahmenkonvention und das Kyoto-Protokoll. Seit diesem Zeitpunkt müssten die Industriestaaten ihre Treibhausgas-Emissionen konsequent senken und sind daran - speziell im Fall von Österreich - grandios gescheitert. Dabei waren schon damals Bewusstsein und Know-how vorhanden. So arbeitete die deutsche Industriegewerkschaft Metall in den 1980er Jahren sowohl an Modellen für eine radikale Arbeitszeitverkürzung als auch an der Umwandlung (Konversion) der Autoindustrie, die als nicht zukunftsfähig angesehen wurde. Es gab ernsthafte Versuche, das 3-Liter-Auto (Verbrauch, nicht Hubraum!) marktfähig zu machen.

Doch dann fielen mit der Berliner Mauer auch sämtliche Konzepte und Strategien. Schließlich mussten die Menschen in Osteuropa mit Privatautos und anderen Konsumwaren überschwemmt werden. Um die schwache Kaufkraft zu kaschieren, wurden eben Billigprodukte (erzeugt zu Billiglöhnen in der Dritten Welt) auf den Markt geworfen. Der wachstums- und profitmaximierende Kapitalismus hatte keinen Systemwettbewerb mehr zu befürchten und konnte sich ungehindert ausbreiten; Rohstoffverbrauch und Umweltzerstörung inklusive.

Noch immer kommen neun der weltweit zehn größten Konzerne aus der Energie- oder Autobranche. Diese Multis regieren die Welt und geben der Politik die Richtung vor. Das erklärt den Widerspruch, wieso selbst demokratisch gewählte Regierungen in Sachen Klimaschutz versagen und damit gegen die objektiven Interessen ihrer eigenen Bevölkerung agieren. Die Menschen in den Industrieländern wurden damit zu Tätern und Opfern der Klimakrise gemacht. Während nämlich die ärmeren 50 Prozent der Weltbevölkerung gerade einmal ein Zehntel der Emissionen verursachen, ist das reichste Zehntel für die Hälfte des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich.

Vollgas in die falsche Richtung statt maßvoller Veränderungen

Wir frönen einem umweltzerstörerischen Lebensstil, ohne dass es uns tatsächlich besser geht. Stress und Arbeitsbeschleunigung nehmen zu, die Solidarität nimmt ab. Sämtliche Lebensbereiche sind durchkommerzialisiert. "Convenience" ist die Umschreibung für Denkfaulheit und Entmündigung. Hätte man vor 30 Jahren tatsächlich mit dem Klimaschutz begonnen, so wären die Veränderungen und Maßnahmen allmählich und maßvoll über die Bühne gegangen. Stattdessen hat man den als falsch erkannten Weg beibehalten und ist dabei auch noch aufs Gaspedal gestiegen. Dass wir an die Wand gefahren werden, wird jetzt umso brutaler klar: Die Anzeichen der Klimakrise werden immer deutlicher sichtbar, die Gegenmaßnahmen müssten daher sehr einschneidend und konsequent sein. "Fossile Industriezweige" - wie aktuell die Autoindustrie - schlittern in den Niedergang.

Die Suppe auslöffeln müssen wir alle; sei es als Arbeitslose, die in der "falschen" Branche gearbeitet haben, als Steuerzahler, die zur Kassa gebeten werden, oder als Eltern, die ihren Kindern eine kaputte Welt hinterlassen. Wir waren bisher nicht radikal genug. Wir haben brav den Müll getrennt und geglaubt, mit unseren ganz persönlichen Einkaufsentscheidungen die Welt ein klein wenig besser zu machen. Echte Alternativen und Visionen zum vorherrschenden Kapitalismus sind uns abhandengekommen. Doch nicht ohne Grund nennen sich neue Umweltschutzorganisationen "Extinction Rebellion" oder "System Change, not Climate Change". Zumindest dem Namen nach stehen sie nicht für das Drehen an kleinen Schrauben, sondern für grundlegende Änderungen des Gesellschaftssystems.