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Wer im Glashaus sitzt . . .

Von Andreas und Stefan Brocza

Gastkommentare

Den USA sind Pläne Chinas, die Pazifik-Insel Tulagi zu pachten, ein Dorn im Auge. Dabei war und ist ihr Vorgehen in Bezug auf Diego Garcia im Indischen Ozean mindestens ebenso fragwürdig.


Aktuell fürchten die USA, dass sich China im Pazifik einen strategischen Vorteil verschaffen könnte, indem es die Insel Tulagi von den Salomonen mietet. Aus gutem Grund unerwähnt lässt man dabei, dass die USA selbst eine lange Tradition darin haben, Inseln von anderen Staaten zu pachten. Vielleicht auch deshalb, weil all das, was die USA mit Diego Garcia im Indischen Ozean über die vergangenen Jahrzehnte so angestellt haben, weit kritischer zu beurteilen ist als all die wirtschaftlichen Vorhaben Chinas auf Tulagi. Es ist also ein Blick zurück auf die Geschichte einer der strategisch wichtigsten US-Militärbasen der Welt durchaus angebracht.

Während in den 1960er Jahren die Mehrzahl der britischen Kolonien den Weg in die Unabhängigkeit antraten, schuf die damalige britische Regierung (übrigens ausgerechnet eine unter der Führung der Labour-Partei) neue Fakten: Mittels einfacher Kabinettsorder wurde im November 1965 eine nagelneue Kolonie namens Britische Territorien im Indischen Ozean, kurz BIOT, geschaffen. Dazu spaltete man kurzerhand Teile von Mauritius und den Seychellen an. Nach der Unabhängigkeit der Seychellen (1976) wurden große Teile an diese zurückgegeben, sodass schlussendlich einzig der Chagos-Archipel im Territorium verblieb. Bereits 1966 erwarb Großbritannien die in Privatbesitz befindlichen Kopra-Plantagen und verpachtete den gesamten Archipel für 50 Jahre an die USA; in der Folge wurden die etwa 1200 Einwohner nach Mauritius und auf die Seychellen zwangsumgesiedelt. Ab 1971 errichteten die USA auf Grundlage einer Reihe bilateraler und teilweise geheimer Abkommen auf der größten Insel Diego Garcia einen Militärstützpunkt, der zum Sperrgebiet erklärt wurde. Der Pachtvertrag mit den USA wurde jüngst bis mindestens 2036 verlängert.

Einzigartige geostrategische Lage der Insel Diego Garcia

Was Malta im Mittelmeer, ist Diego Garcia im Indischen Ozean. Grund dafür ist die einzigartige geostrategische Lage der Insel, vor allem wegen ihrer zentralen Position zwischen drei Kontinenten (Afrika, Asien und Australien) sowie ihrer Nähe zu den Hauptschifffahrtsrouten und den Ölvorräten im Mittleren Osten. Seit Beginn des Kalten Kriegs waren den USA auf der Suche nach einem geeigneten Stützpunkt als Teil ihres Konzepts der "strategischen Inseln", die zur Versorgung und als Basis für das Nachrichtenwesen dienen sollten. Zwischen 1957 und 1964 fanden diverse Erkundungsmissionen statt. Angesichts der bevorstehenden Unabhängigkeit von Mauritius und den Seychellen von Großbritannien entschied man sich bereits Ende 1964 für Diego Garcia.

Großbritannien hatte bereits damit begonnen, auf der Insel einen Luftstützpunkt zu bauen. Ab 1966 errichteten die USA einen Marine- und Luftwaffenstützpunkt, auf dem Langstreckenbomber, Atomwaffen, U-Boote, Kampfjets und Schiffe stationiert sind und der als logistische Basis auch für militärische Aktionen etwa im Irak oder in Afghanistan dient. Selbst Flugzeugträger können den Hafen nutzen. Nach dem Beginn des Afghanistan-Kriegs wurde auf Diego Garcia auch ein Geheimgefängnis eingerichtet, in dem 2002 und 2003 des Terrorismus verdächtige Personen im Rahmen des "Rendition"-Programms der CIA festgehalten, verhört und gefoltert wurden.

Menschenrechtsproblemeauf dem Archipel

Die Bevölkerung des Archipels wurde zwischen 1967 und 1973 deportiert, um der US-Militärbasis Platz zu machen. Nach einem Entschädigungsabkommen mit Mauritius 1982 und jahrelangem Rechtsstreit vor US- und britischen Gerichten wurde der Anspruch der Chagossianer auf Rückkehr in ihren Heimat-Archipel 2008 in letzter Instanz vom Berufungsausschuss des britischen Oberhauses abgewiesen. Begründet wurde dies unter anderem damit, dass Großbritannien seine Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht ausdrücklich auf das Gebiet ausgedehnt habe. Dies entspricht der dualistischen Praxis englischer Gerichte, die jede Geltung von Völkerrecht von der formellen Umsetzung durch innerstaatliches Gesetz abhängig macht. Aus dem gleichen Grund betrachtet Großbritannien auch die Genfer Konventionen, die UN-Menschenrechtspakte, die Konventionen von EU und UNO gegen Folter sowie das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs als unanwendbar auf das BIOT - was dem Gebiet den zynischen Beinamen "human rights black hole" eingetragen hat.

Mauritius bestreitet seit seiner Unabhängigkeit 1968 die Rechtmäßigkeit der Abtrennung und Zwangsentvölkerung des BIOT, unter Berufung auf die Dekolonisierungsentschließungen der UN-Vollversammlung. Das Land erklärte auch in seiner Verfassung den Chagos-Archipel einschließlich Diego Garcia zu mauritischem Staatsgebiet und hat etliche internationale Abkommen ausdrücklich mit Anwendung auf den Archipel und teils gegen britische Proteste ratifiziert. Mauritius beansprucht die ausschließliche Seewirtschaftszone von 200 Meilen um den Archipel sowie seit 2009 eine erweiterte Zone für das Gebiet über dem Festlandsockel des Archipels für sich. Großbritannien beansprucht seinerseits eine Fischereizone sowie eine Umweltschutzzone von 200 Meilen für das selbe Gebiet und erhebt darin von ausländischen Fischfangflotten aus Spanien, Frankreich und Japan jährliche Fanggebühren.

Großbritannien muss die Inseln möglichst schnell zurückgeben

Nachdem der Anspruch auf Rückkehr vor britischen Gerichten nicht durchsetzbar war, versuchte man eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, jedoch blieb auch diese erfolglos. 2010 zogen die Chagossianer vor das Ständige Schiedsgericht in Den Haag, schließlich verabschiedete die UN-Vollversammlung mehrheitlich die Resolution 71/292, mit der der Internationale Gerichtshof zu einem beratenden Urteil beauftragt wurde, um zu klären, ob nach mehreren Resolutionen völkerrechtlich die Dekolonialisierung und die weitere britische Verwaltung sowie die Verhinderung einer Wiederansiedlung legal waren beziehungsweise sind.

Ende Februar 2019 stellte der Internationale Gerichtshof in Den Haag seine Entscheidung mit 13:1-Mehrheit (nur der britische Richter war dagegen) fest, dass die Annexion der Chagos-Inseln völkerrechtlich illegal war. Großbritannien wurde aufgefordert, die Inseln so schnell wie möglich an Mauritius zurückzugeben. Als Gründe wurden das unveräußerliche Recht der Menschen auf Souveränität und Integrität ihres nationalen Territoriums sowie die UN-Erklärung zur Unabhängigkeit von Kolonien aus dem Jahr 1960 angeführt, nach der jeder Versuch der Störung der nationalen Einheit mit den UN-Prinzipien unvereinbar ist. 1965 gab es auch eine entsprechende Resolution in Bezug auf Mauritius. Die damalige Abtrennung des Archipels diente nur der Schaffung einer neuen Kolonie und stand somit im Widerspruch zur UN-Resolution.

Allem Jubel zum Trotz muss jedoch festgehalten werden, dass die Meinung des Internationalen Gerichtshofs rechtlich nicht bindend ist. Dies machte das britische Außenministerium auch schon kurz nach der Feststellung klar. Der Stützpunkt auf dem BIOT sei notwendig, um "die Menschen in Großbritannien und auf der ganzen Welt vor terroristischen Bedrohungen, organisierter Kriminalität und Piraterie zu schützen".

"Verlorener Standort" angesichts des Klimawandels

Nur ein Umdenken der USA könnte es Großbritannien ermöglichen, gesichtswahrend der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs nachzukommen. Sobald nämlich der Stützpunkt uninteressant wird, steht einer Rückgabe an Mauritius nichts mehr im Wege. Und da könnte ausgerecht der Klimawandel eine wichtige Rolle spielen. Bereits vor einem Jahrzehnt waren nämlich erste Küstenschutzmaßnahmen gegen die Stranderosion am Nordwestrand von Diego Garcia erforderlich. Seit den 1990ern stellen britische Wissenschafter einen dramatischen Anstieg der Meerestemperatur im Chagos-Archipel fest.

Selbst das US-Verteidigungsministerium beginnt sich Sorgen um die langfristige Sicherheit von Diego Garcia zu machen, stufte doch schon 2007 eine Thinktank-Studie die Insel als "verlorenen Standort" angesichts des Klimawandels ein. Wegen seiner geringen Höhe über dem Meeresspiegel - im Durchschnitt etwa 1,30 Meter - könnte ausgerecht ein Stützpunkt des US-Militärs im Indischen Ozean das erste Opfer des bereits in der gesamten Region feststellbaren Meeresanstiegs werden.

Dann wären zwar Mauritius und die rückkehrwilligen Chagossianer die moralischen Sieger im Jahrzehnte langen Streit. Faktisch wäre nur nichts mehr da, was zurückgegeben werden müsste und könnte.

Andreas Brocza ist Politologe mit Schwerpunkt auf außereuropäische regionale Integrationsprozesse.

Stefan Brocza ist Experte für Europarecht und internationale Beziehungen.

Der vorliegende Text ist auch in der Zeitschrift "WeltTrends" erschienen.