Zum Hauptinhalt springen

Die Selbstermächtigung zur Freiheit

Von Andreas Kresbach

Gastkommentare

Vor 30 Jahren stürzte nicht nur der Fall der Berliner Mauer das SED-Regime in der DDR, es waren auch die mutigen und gewaltlosen Massendemonstrationen in Leipzig. Ostdeutsche Bürgerrechtler wollen besonders an diese erinnern.


Zum 30. Jahrestag wurde heuer des Falls der Berliner Mauer im Herbst 1989, des Endes der Nachkriegsordnung bis hin zur dann folgenden Wiedervereinigung Deutschlands gedacht. Eine wesentliche Voraussetzung für diesen epochalen Umbruch war die in der DDR sich über das ganze Jahr 1989 entwickelnde Friedliche Revolution, die mit ihren Woche für Woche zunehmenden gewaltlosen Massendemos die 40 Jahre dauernde SED-Diktatur in die Knie zwangen. Die vor allem in Leipzig entstandene Bürgerprotestbewegung, die Repressalien und massiven Drohungen des Regimes mit Mut, Engagement und konsequenter Gewaltlosigkeit trotzte und schon einen Monat vor der Öffnung der Mauer den überraschenden Durchbruch schaffte, hat Leipzig dann den Ehrentitel "Heldenstadt" eingebracht.

Eine, die in der Leipziger Bürgerrechtsbewegung von Anfang an dabei war, ist Gesine Oltmanns, damals 24 Jahre alt, seit 1987 in Menschenrechtsgruppen engagiert und heute noch im Vorstand der Stiftung "Friedliche Revolution". Aus einer evangelischen Pfarrersfamilie im Erzgebirge stammend, war ihr nach aktenkundiger Kritik am Wehrkundeunterricht das Studium verwehrt worden. In Leipzig fand sie Anschluss in der Jungen Gemeinde der Nikolaikirche, wo sich rund um die dort schon seit 1982 wöchentlich organisierten Friedensgebete in mehreren Bürgerrechtsgruppen in- und außerhalb der Kirche das aktive kritische Potenzial sammelte. Obwohl die Kirche dem schon seit längerer Zeit aufgestauten Protest, wie in der ganzen DDR, ein schützendes Dach bot, kam es in der Nikolaikirche, wo der mutige Pfarrer Christoph Wonneberger für die Friedensgebete eingesetzt war, mit der zunehmenden Politisierung der Bewegung zu internen Konflikten, weshalb der Protest dann auch auf die Straße ging.

So organisierte die von Gesine Oltmanns mitinitiierte "Initiative zur demokratischen Erneuerung" im November 1988 zum Gedenken an das Pogrom 1938 erstmals einen Schweigemarsch zur früheren Synagoge, um auch auf das Problem des Neonazismus im Land aufmerksam zu machen. Im Jänner 1989 kam es anlässlich des Gedenkens an die sozialistischen Vorkämpfer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zur ersten größeren Kundgebung seit Jahrzehnten mit mehreren hundert Teilnehmern. Mit zehn weiteren Mitstreitern wurde Gesine Oltmanns von der Stasi dafür in U-Haft gesteckt, aus der sie nur aufgrund der Intervention des BRD-Außenministers Genscher bei der KSZE-Konferenz in Wien schon nach einer Woche freikam. Die damit aufkeimende Hoffnung, dass sich die Menschen mit ihrer Zwangslage in der DDR nicht mehr abfinden wollten, bewog sie auch, ihren Ausreiseantrag wieder zurückzuziehen.

Denn damals begann eine riesige Ausreisewelle, Tausende sollten bis November 1989 die DDR verlassen. Die breite Empörung im Land über die Fälschung der Ergebnisse der Kommunalwahlen im Mai und die im Sommer über Ungarn und Österreich einsetzende Massenflucht von DDR-Bürgern forcierten die Wut und die Entschlossenheit im Volk zunehmend. Die Protestbewegung nahm Fahrt auf. Nach dem Friedensgebet am 4. September entrollten Gesine Oltmanns und Katrin Hattenhauer ein Transparent: "Für ein offenes Land mit freien Menschen." Bevor es ihnen die allgegenwärtigen Stasi-Leute aus den Händen rissen, hatten wegen der Leipziger Messe anwesende West-Journalisten bereits Fotos gemacht, die dann im Westen erschienen. Dies war der Beginn der Leipziger Montag-Demonstrationen.

"Keine Gewalt!" amTag der Entscheidung

So versammelten sich jede Woche mehr Leute zu den Friedensgebeten, die von den untereinander vernetzten Bürgerrechtlern auch im ganzen Land abgehalten wurden. In Leipzig, dem Zentrum der Protestbewegung, riegelte die Polizei die Straßen gegen eine Kundgebung ab, immer wurden auch einige Demonstranten herausgefischt und in U-Haft gesteckt. An der Kirche wurden dann Kerzen für die Inhaftierten aufgestellt und mit Aufrufen zu ihrer Befreiung versehen. "Das hat die Menschen auf der Straße bewegt, damit konnte man sich solidarisieren", meint die damalige Aktivistin. Die zunehmende Beteiligung machte immer mehr Leute neugierig und mutig. Ein zusätzlicher Impuls seien die Bilder der Massenausreise der DDR-Flüchtlinge aus der Prager Botschaft mit Zügen über Dresden gewesen, wo es auch prompt gewaltsame Auseinandersetzungen am Bahnhof gab.

An den Leipziger Montag-Kundgebungen waren es zunächst Hunderte, die von der Nikolaikirche mit der Aufforderung von Pfarrer Wonneberger, "Demonstriert, aber gewaltfrei!", durch die Stadt zogen, "Reisefreiheit statt Massenflucht" und "Versammlungsfreiheit" forderten. Bald waren es schon einige tausend Demonstranten. Am 2. Oktober marschierte der Protestzug am Leipziger Ring entlang bis zur berüchtigten "Runden Ecke", dem Gebäude der Stasi-Zentrale, dabei und vor allem am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR-Gründung, kam es aber auch zu gewalttätigen Konfrontationen mit den Sicherheitskräften und zu vielen Verhaftungen.

Nun war das Regime endgültig herausgefordert, die allgemeine Anspannung näherte sich ihrem Höhepunkt. Für den 9. Oktober war eine Massenkundgebung zu erwarten, Gerüchte sprachen aber auch von einem geplanten harten Eingreifen von Polizei, Kampfgruppen und Armee. Tatsächlich wurde in Leipzig ein Großaufgebot an bewaffneten Einsatzkräften zusammengezogen, die Stadt glich einer abgeriegelten Festung.

Gesine Oltmanns sagt dazu heute: "Wir waren alle höchst gespannt, wir wussten ja nicht, wie viele Leute kommen." Am frühen Abend füllten sich dann vier Kirchen mit Friedensgebeten. Zur Deeskalation war von kirchlichen Gruppen schon zuvor ein Flugblatt mit dem Titel "Keine Gewalt!" überall verteilt worden. Am Demonstrationszug sollten schließlich rund 70.000 Menschen mitgehen und der Staatsmacht eindrucksvoll "Wir sind das Volk" entgegenrufen, man umrundete dabei erstmals den ganzen Innenstadt-Ring und als man an dem verdunkelten Stasi-Gebäude ohne Eingreifen der Polizei vorbeimarschierte, war die Erleichterung der Menschenmassen förmlich greifbar: keine Gewalt, keine Verhaftungen. Der Druck der Straße hatte die geballte Kraft einer Diktatur überwältigt. "Ein großes Gefühl" wird diese Stimmung für Gesine Oltmanns auch nach 30 Jahren immer noch lebendig. Dass von dieser historischen Kundgebung auch Bilder zu sehen waren, ist zwei Mitgliedern der Ostberliner Umwelt-Bibliothek zu verdanken, die den Demonstrationszug vom Turm der Reformierten Kirche filmten und fotografierten und das Video über einen Korrespondenten von Ost- nach Westberlin schmuggelten; am nächsten Tag konnten in der ARD dann Millionen in Ost- und Westdeutschland sehen, was sich in Leipzig abgespielt hatte.

Zum friedlichen Verlauf dieses entscheidenden Tages hatte freilich auch der über Lautsprecher des Stadtfunks verbreitete und in den Kirchen verlesene "Aufruf der Leipziger Sechs" beigetragen, in dem der prominente Gewandhaus-Musikdirektor Kurt Masur, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange, der Theologe Peter Zimmermann und drei führende SED-Sekretäre gemeinsam Demonstranten und Polizei zur Besonnenheit mahnten und erstmals die Rede von einem freien Meinungsaustausch und friedlichem Dialog war. Vor allem die drei Parteisekretäre riskierten dabei viel, indem sie durchaus eigenmächtig und unter dem Druck der turbulenten Ereignisse auch den verantwortlichen Bezirksparteisekretär überzeugen konnten, die bewaffneten Einsatzkräfte, entgegen dem Befehl von Staatschef Erich Honecker, rechtzeitig zurückzuziehen. Ansonsten, so die Befürchtung sowohl der Demonstranten als auch von Teilen des Sicherheitsapparates, hätte es auch ein Blutbad, wie einige Monate zuvor in Peking, geben können. Bernd-Lutz Lange hat die dramatischen Ereignisse dieses Tages in seinem jüngst erschienenen Buch "David gegen Goliath" detailreich geschildert.

Den historischen 9. Oktober 1989 in Leipzig, der in der DDR die eigentliche Wende im Kampf um die Freiheit markierte, wollen die Bürgerrechtler von damals deshalb auch heute in den Mittelpunkt der Friedlichen Revolution stellen und als Feiertag entsprechend würdigen. Ohne diese erstaunliche Entwicklung hin zu einer breiten Bürgerbewegung und den Triumph der gewaltlosen Demonstrationen (den Christian Führer, der 2014 gestorbene Pfarrer der Nikolaikirche, als "unglaubliches Wunder biblischen Ausmaßes" bezeichnete) hätte es in der DDR keine weiteren Massenkundgebungen und damit wohl auch keine so spontane Öffnung der Mauer im November 1989 gegeben. Leipzig gedenkt heute des 9. Oktobers 1989 immerhin mit einem von der Stadt veranstalteten "Lichtfest".

Stasi-Verbrecher kehrten rasch wieder in den Dienst zurück

Die auch 30 Jahre nach der Wende durch Arbeitslosigkeit, Abwanderung und fehlende Perspektiven nach wie vor gedrückte Stimmungslage vieler Ostdeutscher, die auch zum großen Zulauf zu den Rechtspopulisten führt, erklärt Gesine Oltmanns mit der in der DDR weit verbreiteten Anpassung und Anfälligkeit für Autoritäten. Diese Erfahrungen seien dann einfach weitervererbt worden. Eine Zivilgesellschaft habe es kaum gegeben, die Bürgerrechtsbewegung sei ja nur eine ganz kleine Gruppe gewesen. Nach 1989 war man vor allem mit der Aufarbeitung des Stasi- und SED-Regimes und den Anträgen auf Akteneinsicht beschäftigt, erzählt die einstige Bürgerrechtlerin, die einige Jahre auch selbst in der dafür zuständigen Behörde tätig war.

Auf die trotz Rehabilitierungen unzureichende Aufarbeitung der in der DDR allgegenwärtigen Staatssicherheit weist auch Rainer Müller, Historiker und Dissident der ersten Stunde, der in der DDR nicht einmal das Abitur machen durfte, hin. Angesichts der weit verbreiteten Stasi-Verflechtung sei das gar nicht möglich gewesen. Im öffentlichen Dienst gab es natürlich Überprüfungen und Entlassungen, je nach Schweregrad der Verstrickung in die Stasi-Verbrechen. Aber die Entlassenen seien oft gleich wieder in Polizei und Schuldienst aufgenommen worden und dort teilweise heute noch tätig. Vom DDR-Regime Verfolgte würden dagegen aufgrund ihrer nicht möglich gewesenen Ausbildung und eines entsprechenden Berufs bis heute die daraus folgenden Nachteile mitschleppen.