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Jedem Arbeitslosen das Seine?

Von Georg Grund-Groiss

Gastkommentare

Der neue AMS-Algorithmus im Gerechtigkeitscheck.


Das AMS ist einer der wichtigsten Chancen-Pförtner für Arbeitssuchende. Daher ist es wenig verwunderlich, dass die für den Sommer 2020 geplante Einführung eines Algorithmus zur Steuerung von Diagnostik und Therapie in der Arbeitsmarktpolitik breite Aufmerksamkeit findet. Denn knapp eine Million Menschen pro Jahr sind in Österreich von Arbeitslosigkeit betroffen, und aktuell zählt das AMS mehr als 94.000 Personen, die schon länger als ein Jahr ohne nachhaltige Beschäftigung geblieben sind.

Beraterinnen und Berater des AMS berichten, dass viele von ihnen die kontroverse Debatte über den AMS-Algorithmus mit geradezu existenziellem Interesse verfolgen: Führt die - in einem ersten Schritt - maschinelle Einteilung arbeitsloser Personen in Gruppen mit niedrigen, mittleren und höheren Arbeitsmarktchancen zu einer Benachteiligung von ohnehin schon Benachteiligten? Oder stärkt der beabsichtigte effizientere Einsatz öffentlicher Mittel am Ende gar die Gerechtigkeit im System, weil das AMS dank seines Algorithmus sowohl den Bedürfnissen der Einzelnen wie auch den allgemeinen Zielen der Arbeitsmarktpolitik präziser entsprechen kann? Die kulturkritische Debatte um den "Angriff der Algorithmen" ist so bedeutsam wie unübersichtlich. Ihr grob vereinfachter Tenor lautet: Bleiben wir skeptisch gegenüber einer unaufhaltsamen Entwicklung, indem wir jeden Anwendungsbereich sorgfältig unter die Lupe nehmen.

Die Arbeitsmarktpolitik arbeitet schon jetzt mit Algorithmen

In der Arbeitsmarktpolitik kommt seit jeher eine Menge an Statistik zum Einsatz: bei der Bestimmung von Zielgruppen, bei der Gestaltung der Förderarchitektur oder bei der Budgetverteilung. Dabei sind die Logiken der Zuweisung von Personen zu einer Zielgruppe - zum Beispiel Ältere, Langzeitbeschäftigungslose oder Wiedereinsteiger - nichts anderes als Algorithmen samt einer impliziten Prognose der Integrationschancen am Arbeitsmarkt.

Eine Debatte über diese Art von Algorithmen gab es bisher nicht. Profiling (Mit wem habe ich es zu tun?) und Targeting (Welche Instrumente sind für wen zweckmäßig?) gehören zum Handwerk. Und bisher galt es als selbstredend, dass die Arbeitsmarktstatistik zwar die sozio-ökonomischen Realitäten der Betroffenen abzubilden versucht, die Arbeitsmarktbehörden aber diese Realitäten zwecks Maximierung der Chancen zu formen trachten.

Neu am neuen AMS-Algorithmus ist, dass auf Basis eines komplexeren inhaltlichen und mathematischen Modells nicht nur implizite Chancengruppen (Zielgruppen), sondern explizite Chancengruppen gebildet werden. Die Logik der Zielgruppen wird aber keineswegs aufgegeben. Sie hat weiterhin Priorität und wird um die Logik der expliziten Chancengruppen ergänzt. Der Einsatz der Dienstleistungen und Förderungen soll in Zukunft von beiden Logiken gesteuert werden.

Bekommen wir es beim AMS-Algorithmus also überhaupt mit einer neuen Qualität von Förderungs- und Diskriminierungsrisiken zu tun? Oder ist es vielleicht vor allem der Begriff "Algorithmus" selbst, der die Pferde scheu macht und dunkle Befürchtungen schürt, eines Tages könnte eine Intelligenz ohne Gefühle und Bewusstsein maßgebliche Entscheidungen über unsere Berufschancen treffen?

Jedenfalls scheint bei vielen das tief verankerte Gerechtigkeitsempfinden zu rebellieren. Unterziehen wir daher den AMS-Algorithmus einem philosophisch inspirierten Gerechtigkeitscheck. Dessen grundsätzliche Annahme lautet, dass Gerechtigkeit sich stets in drei wesentlichen Dimensionen manifestiert: Nützlichkeit, Freiheit und Würde beziehungsweise Werte und Tugenden.

Die Nützlichkeit des
AMS-Algorithmus

Der Algorithmus erhöht die Effizienz des Einsatzes öffentlicher Gelder, weil die Maßnahmen passgenauer gewählt beziehungsweise passgenauere Maßnahmen mit höherer Effektivität entwickelt werden können. Arbeitslose mit höheren Chancen erfahren keine Nachteile, Arbeitslose mit mittleren Chancen profitieren vom konzentrierten Mitteleinsatz. Ob Menschen mit niedrigen Arbeitsmarktchancen Nutzen daraus ziehen, hängt davon ab, ob passgenaue Betreuungsformen und Maßnahmen für sie zur Verfügung stehen.

Das AMS verweist auf die partielle Ineffektivität des bisherigen Einsatzes von befristet geförderter Beschäftigung oder Facharbeiterausbildungen und auf die höhere Effektivität neuer Betreuungsangebote, die Einzelcoachings, Gesundheitsförderung und Kurzqualifizierungen beinhalten. Ist dies der Fall, wird durch den AMS-Algorithmus der größtmögliche Nutzen für die größtmögliche Zahl an Arbeitslosen erweitert, wovon wiederum die Gesamtgesellschaft profitiert.

Freiheit
und Würde

Die Inanspruchnahme der neuen Betreuungsangebote für Personen mit niedrigen Arbeitsmarktchancen soll freiwillig erfolgen. Damit ist das Recht auf persönliche Mitsprache gestärkt. Die faire Chance auf Teilhabe an anderen arbeitsmarktpolitischen Programmen ist durch das gesetzliche Prinzip, die Mittel "nach den Erfordernissen des Einzelfalls" einzusetzen, weiterhin auf oberster Normenebene gewahrt. Zudem können die Beraterinnen und Berater die maschinellen Vorschläge zur Eingruppierung übersteuern. Sie sollen laut AMS ausreichend Zeit, Befugnisse und Anleitung erhalten, um deren Schwerkraft im Routinebetrieb auch routiniert zu überwinden.

Die sonstigen - prioritären - arbeitsmarktpolitischen Ziele des AMS, etwa die Vorgaben zur Förderung von Arbeitsaufnahmen von Behinderten, Langzeitarbeitslosen oder über 50-Jährigen sichern zusätzlich die Chancengerechtigkeit beim Zugang zum gesamten Spektrum der Instrumente.

Werte und
Tugenden

Für Personen mit niedrigen Arbeitsmarktchancen kann die Eingruppierung durch den Algorithmus beziehungsweise durch die Beraterinnen und Berater bedeuten, dass sie infolge der Teilnahme an den neuen Betreuungsangeboten für ein Jahr bedingungsreduzierte Leistungen erhalten. Dies entspricht dem Prinzip, "jedem das Seine" zu gewähren.

Wenn langzeitarbeitslose Menschen temporär einem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen müssen, dessen Anforderungen sie nach aller Erfahrung der AMS-Betreuung im Moment nicht gewachsen sind und der sie schon viele Male zurückgewiesen hat, trägt dies dazu bei, dass sie sich von den gesellschaftlichen Institutionen nicht mehr gedemütigt fühlen. Das stärkt die Tugend der Eigenverantwortung und erhöht - teilweise bereits empirisch nachweisbar - den Wirkungsgrad der Hilfe zur Selbsthilfe.

Forderung an die Politik nach einem sozialen Arbeitsmarkt

Einen gewichtigen Einwand gibt es: Die Einführung des AMS-Algorithmus sollte von der Einführung eines sozialen Arbeitsmarktes flankiert werden. Diese Forderung ist nicht primär an die Adresse des AMS, sondern an die Adresse der Politik gerichtet. In einem noch zu bestimmenden Umfang sollten dauerhaft geförderte Arbeitsverhältnisse für sehr erwerbsferne arbeitslose Personen in Gemeinden, gemeinnützigen Einrichtungen und Betrieben eingerichtet werden, ohne dass die Kriterien der Zusätzlichkeit, der Wettbewerbsneutralität und des öffentlichen Interesses dafür ausschlaggebend sind.

Denn das Potenzial an Anerkennung, das die Erwerbsarbeit auch für sehr erwerbsferne arbeitslose Personen birgt, verdient eine strukturelle Förderung. Dies wiederum könnte die Idee einer "guten Gesellschaft" bereichern.