Was ist der Orient? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Man verbindet mit ihm etwa den Briten Thomas Edward Lawrence (1888 bis 1935), bekannt als Lawrence von Arabien, der sich im Ersten Weltkrieg auf der Arabischen Halbinsel an einer Revolte gegen das Osmanische Reich beteiligte. Der nach ihm benannte Film erhielt 1963 sieben Oscars. Auch die Heiligen Drei Könige werden gerne mit dem Orient in Verbindung gebracht. In der Übersetzung des Neuen Testaments von Martin Luther 1522 ist von "Drei Weisen aus dem Morgenland" zu lesen. Der Stern von Bethlehem führte sie zu Jesus.

Mit dem Orient assoziiert werden ferner der Islam, Krieg, Gewalt und Migration, aber auch Exotik und Erotik. Die beiden Türkenbelagerungen Wiens 1529 und 1683 bilden in Österreich noch immer einen wichtigen Erinnerungsimperativ, wie 2009 ein Wiener Schuldirektor erfahren musste, nachdem er einer Lehrerin nahegelegt hatte, das Thema aus Rücksichtnahme auf den Migrationshintergrund vieler Schülerinnen und Schüler nicht mehr zu unterrichten. Ein Aufstand erboster Eltern und eine Kampagne der Boulevardpresse mit dem Vorwurf der "Geschichtsfälschung" waren die Folge. Dabei ließe sich das Problem einfach lösen. Man müsste eben nicht nur an die Türkenkriege erinnern, sondern auch an die zahlreichen Friedensverträge zwischen Habsburgern und Osmanen.

Arno Strohmeyer ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Salzburg und Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Neuzeit und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Er erforscht Interkulturalität und Religionskonflikte im europäisch-orientalischen Raum. - © Andreas Kolarik
Arno Strohmeyer ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Salzburg und Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Neuzeit und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Er erforscht Interkulturalität und Religionskonflikte im europäisch-orientalischen Raum. - © Andreas Kolarik

Unklare geografische Abgrenzung

Wo der Orient geografisch beginnt und endet, ist unklar und hat sich im Laufe der Zeit verändert. Scharfe Grenzen gibt es nicht. Wörtlich übersetzt ist die Gegend im Osten gemeint, wo die Sonne aufgeht, was vom Standort des Betrachters abhängt. Den Kernraum bildet gemeinhin der Nahe Osten, aber auch der Balkan, Sizilien, die Iberische Halbinsel und Nordafrika werden zumindest zeitweise zum Orient gerechnet. Manchmal bilden auch ostasiatische Länder wie Indien und Pakistan einen Teil.

Die Forschung beschäftigt sich mit dem Orient schon lange. Bahnbrechend wirkte das 1978 erschienene Buch "Orientalismus" des US-Amerikaners palästinensischer Herkunft Edward W. Said (1935 bis 2003). Seine Ansicht, die europäischen Bilder vom Orient seien stets von Kolonialismus und Imperialismus geprägt gewesen und hätten dazu gedient, die Vorherrschaft der Europäer über diesen Raum zu begründen, stieß zwar auf harsche Kritik, trug jedoch wesentlich zu einem besseren Verständnis der Beziehungen Europas zum Orient bei.

Deutlich weniger der Fall ist das bei der ebenfalls einflussreichen These des Politologen Samuel P. Huntington (1927 bis 2008), das Verhältnis des Westens zum Orient sei ein "Kampf der Kulturen" ("clash of civilizations"). Tiefgreifende kulturelle und religiöse Differenzen hätten zu einer fundamentalen Gegensätzlichkeit und einer endlosen Reihe blutiger Konflikte geführt, die bis zu den Kreuzzügen im 11. Jahrhundert zurückreichen würden. Die moderne Forschung lehnt jedoch die Existenz einheitlicher und voneinander scharf abgrenzbarer Kulturräume, wie sie Huntington konstruierte, ab. Verwiesen wird auf die kulturelle Vielfalt des Orients, transkulturelle Übergangszonen und die Fülle von Austauschprozessen mit dem Westen.