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Europas politischer Klimawandel

Von Gerfried Sperl

Gastkommentare

Die Trennung, die Macht des Geldes und die Mühen der Umsetzung.


Die endgültige Trennung zwischen Großbritannien und der EU nach 47 Jahren der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit reduziert die europäische Balance auf die Achse zwischen Berlin und Paris. Die Macht der Zentralbanken jedoch bleibt davon unberührt, denn das Pfund wurde, so wie der Linksverkehr, von den Briten nie aufgegeben.

Als die Briten 1974 beitraten, war die heutige EU noch dominant eine Wirtschaftsgemeinschaft. Das britische Kolonialreich war zerstoben, aber Wirtschaft und Industrie auf der Basis der historischen Beziehungen und der nach wie vor mächtigen Technologien täuschten ein intaktes Weltreich vor. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sollte es ergänzen und stützen. Dieser Zweck kollidierte schließlich massiv mit der Installierung des Euro, der mit dem Dollar um die Währungsdominanz in Konkurrenz trat und das Pfund in den Hintergrund drängte. Die Politikseiten der Printmedien und die für die Mehrheit der politisch interessierten Bevölkerung relevanten Fernsehnachrichten verdecken jedoch, wie vor und nach der Währungskrise 2008/2009, Bedeutung und Ränke der Finanzwirtschaft.

Wenn ab dem 1. Februar Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU ist und sich die politischen Gewichtungen in der westlichen Welt zu verschieben beginnen, ändert sich an den geldpolitischen Machtrelationen nichts. Hier findet kein Austritt statt, weil Großbritannien in den 1990er Jahren der Europäischen Währungsunion gar nicht beigetreten ist - und damit einen Schritt zur aktuellen Scheidung bereits vorweggenommen hat.

Die Vorstellung vom Aufbaueiner EU-Armee gerät zur Farce

Wenn die politischen Auswirkungen des Brexit diskutiert werden, darf also nie auf die Bankenkonstellation im Hintergrund vergessen werden. Nicht auf die USA mit der Fed, nicht auf die Bank of England, nicht auf die Europäische Zentralbank, schließlich auch nicht auf die sogenannten Bric-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China. Die OECD prognostiziert, dass allein China im Jahr 2050 an die 30 Prozent des globalen BIP auf sich vereinen wird, die USA und Indien etwa 16 Prozent.

China stellt vor allem seine zivilen Investitionen, allen voran jene für die Projekte der Neuen Seidenstraße, in den Vordergrund. Dorthin soll in den nächsten Jahren das meiste Geld fließen. Das heißt jedoch nicht, dass die Regierung in Peking die militärische Konstellation geringschätzt. Schätzungen des Friedenforschungsinstituts Sipri in Stockholm zufolge beträgt Chinas Militärbudget derzeit 250 Milliarden Dollar, jenes der USA 650 Milliarden. Die Budgets der Bric-Staaten betrugen 2018 rund 40 Prozent der Aufwendungen für die Nato.

Die Vorstellung vom Aufbau einer EU-Armee gerät angesichts dieser gigantischen Summen und mit Blick auf die Finanzmittel zur Bewältigung des Klimawandels zur Farce. Zahlreiche Autoren (zuletzt etwa William Davies in seinem Buch "Nervöse Zeiten") zeigen ziemlich schlüssig, dass der klassische "Krieg" das europäische Territorium seit den 1990er Jahren verschont. Hier hat die Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Interventionen keine Konturen mehr. Drohneneinsätze enden als Mordanschläge, der "Krieg gegen Drogen" findet vor allem undercover statt, den Umfang des Einsatzes an Geld und Agenten kennt man nicht, Geheimdienste und reguläre Armeetruppen treten einmal vereint, dann wieder getrennt auf. Die EU wird wegen ihrer multinationalen Struktur niemals so agieren können. Sie ähnelt, was das Militärische betrifft, eher der UNO als einem Nationalstaat.

Europas Zukunft hängt auchvon jener Donald Trumps ab

Sechs Aspekte werden nach dem Brexit für die nähere Zukunft der EU eine große Rolle spielen.

Erstens: Wird das Nato-Mitglied Großbritannien dem Werben von US-Präsident Donald Trump nachgeben und sich in einer neu belebten angelsächsischen Koalition gegen den europäischen Kontinent wenden? Ein eigener, schnell beschlossener Handelsvertrag zwischen Washington und London soll die angelsächsischen Märkte stärken.

Zweitens: Wer wird in Europa das Sagen haben? Denn wie lange noch wird Angela Merkel Deutschland regieren? Wer folgt ihr nach? Die CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer oder der offensive Neoliberale Friedrich Merz?

Drittens: Kann Trump im November noch einmal die US-Präsidentschaftswahlen gewinnen? Oder folgt ihm eine (berechenbare) Frau? Die "New York Times" hat erst vor kurzem zwei Kandidatinnen aus dem demokratischen Lager empfohlen: Elisabeth Warren, die Senatorin aus Massachusetts, und Amy Klobucar, die slowenisch-stämmige Senatorin aus Minnesota.

Viertens: Wird die von den USA heftig kritisierte Zustimmung Deutschlands (und bekanntlich auch Österreichs) zur Gasleitung North Stream den russischen Präsidenten Wladimir Putin dazu veranlassen, dass es eine Lösung der Ukraine-Frage und eine Art "Friedensachse" geben kann?

Fünftens: Kann es den Europäern gelingen, den Atomstreit zwischen den USA und dem Iran vor einer Explosion zu bewahren? Dazu müssen sie auf eine Ablöse Trumps hoffen.

Sechstens: China wird seine wirtschaftlichen und vor allem technologischen Stärken (Stichwort Huawei) weiter vorantreiben. Das Riesenreich ist aber auch auf wissenschaftlichem Gebiet im Vormarsch, seine Forscher haben etwa in der Gentechnik und bei der Stammzellenentwicklung keine moralischen Auflagen. Das bremst Europas Universitäten.

45 Milliarden Euro britische Schulden bei der EU

Zumindest das ganze Jahr 2020 wird man benötigen, um zwischen der EU und Großbritannien den anvisierten Handelsvertrag auszuhandeln und die Modalitäten der Begleichung jener 45 Milliarden Euro britischer Schulden bei der EU besprechen, auf die man sich geeinigt hat. In alter Margaret-Thatcher-Tradition lassen die britischen Vertreter schon die Muskeln spielen. "Jetzt läuft das auch nach unseren Regeln", oder "Jetzt kann Brüssel uns nichts mehr vorschreiben", wird von Boris Johnson abwärts erklärt. Jetzt schon zeigen sich aber auch Umrisse innerbritischer Konflikte. Die Parlamente von Schottland, Wales und Nordirland haben sich vor wenigen Monaten noch einmal deutlich gegen den Brexit ausgesprochen.

Boris Johnson & Co propagieren die Trennung seit 2016 jedoch als einen nationalen Befreiungsschlag. "Welche Nation?", fragen da irische und schottische Autorinnen und Autoren, denn die Mehrheit für die Sezession kam ja vor allem in England (außerhalb Londons) und kleinen Teilen von Wales zustande. Großbritannien sei nie ein Nationalstaat gewesen, sondern ein "Commonwealth of Nations", wird auf den Meinungsseiten der Printmedien entgegnet.

Der Erfolg des Brexit wird sich freilich auf harte Fakten gründen. Johnson hat das begriffen und eine erste Maßnahme gesetzt: Die von Unglücken und Skandalen gebeutelte "Northern", die Bahnlinie von London Richtung Schottland in die Gebiete mit den höchsten Brexit-Zustimmungsraten, wird wieder verstaatlicht. In der Not werden selbst Neoliberale wie Johnson zu Sozialisten.