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Die Logik des Kampfes um die Rebellenenklave Idlib

Von René Tebel

Gastkommentare
René Tebel ist Historiker und politischer Analyst (www.tebel-report.at).
© privat

Die Brutalität des Kampfes, das Leid der Zivilbevölkerung und zerstörte Städte sind keine Zufallsprodukte des Krieges in Syrien.


Die Nachricht kam nicht überraschend: Die syrische Armee nahm vorige Woche Maarat al-Nurman ein, die zweitgrößte Stadt der syrischen Provinz Idlib. Damit verlor die Hayat Tahrir al-Sham, die wichtigste Dschihadistenfraktion, ihre Schlüsselstellung im Süden der letzten Rebellenenklave in Syrien. Vorausgegangen waren monatelange russische und syrische Luftangriffe sowie der Abwurf von Fassbomben. Maarat al-Nurman war daher schon vor der Offensive entvölkert und ein Trümmerfeld. In Idlib sollen nun auch 35 türkische Soldaten getötet worden sein, was einen Gegenschlag ausgelöst hat.

Die Brutalität des Kampfes, das Leid der Zivilbevölkerung und zerstörte Städte sind in diesem Krieg keine Zufallsprodukte, sondern Teil der tragischen Logik des Konfliktes: Die Provinz Idlib hatte vor dem Krieg 1,5 Millionen Einwohner. Nach der Erhebung gegen Machthaber Bashar al-Assad - die bald radikale Islamisten kaperten - flüchteten Oppositionelle vor der syrischen Staatsmacht in die Enklave an der Grenze zur Türkei. Laut Schätzungen der UNO verdoppelte sich so der Bevölkerungsstand. In Idlib entstanden "Staaten" innerhalb des Staats, organisiert und kontrolliert von streng islamistischen Räten und Dschihadistenfraktionen.

Assad, schon vor der Revolution mit Kritikern nicht besonders zimperlich, folgt in Idlib dem simplen Gedanken: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Somit zählt nur die Rückgewinnung der Gebiete, auch um den Preis der Zerstörung der Städte und der Vertreibung hunderttausender Bewohner. Ein Sieg Assads und seiner iranischen und russischen Verbündeten liegt aber keineswegs im Interesse der Türkei. Zwar neigt sich auf der großen Bühne des Syrien-Krieges die türkische Schaukelpolitik momentan eher Russland zu, dennoch steht sie in Idlib im Gleichklang mit US-Interessen. Von indirekten Waffenlieferungen an die Islamisten ist die Rede. Oppositionelle werfen Ankara trotzdem vor, mit Moskau gemeinsame Sache zu machen und damit die "Syrische Revolution" zu untergraben.

Dieser Eindruck hängt mit einem Wortbruch der Türkei zusammen, der sie in Argumentationsnot bringt: Im September 2018 hatten die Präsidenten Russlands und der Türkei eine entmilitarisierte Zone am Rand der Rebellenenklave vereinbart. Die Türkei sah dies aber als Freibrief an, ihre eigene Macht in Syrien auszudehnen. Als angesichts ihrer Tatenlosigkeit Assad und die Russen im April 2019 selbst militärisch vorgingen, um zwei wichtige Autobahnverbindungen aus den Händen der Dschihadisten zu befreien, konnte sie nicht viel entgegensetzen.

Genau hier lässt sich die Einnahme von Maarat al-Nurman verorten. Assads Armee steht bereits kurz vor Saraqib, wo die beiden wichtigen Autobahnen der Region zusammenlaufen. Die Türkei protestiert, errichtet Beobachtungsposten nahe der Stadt und wird mit Flüchtlingsströmen drohen. Russland und Syrien werden ihrerseits geduldig und unbeirrt ihre bisherige militärische Strategie fortsetzen, an deren Ende aber nicht die Öffnung der Autobahnen stehen wird, sondern der Sieg im gesamten Rebellengebiet.