Zum Hauptinhalt springen

Impfmythen und Gefahren

Von Alexander Winkler

Gastkommentare
Alexander Winkler befindet sich in den letzten Monaten seiner Ausbildung zum Allgemeinmediziner in Wien und im Burgenland, ist verheiratet und Vater zweier Söhne.
© privat

Ein Plädoyer gegen die Argumente der Impfgegner.


Was haben Luftverschmutzung und Impfgegner gemeinsam? Beide standen auf der WHO-Liste "Zehn Bedrohungen für die globale Gesundheit im Jahr 2019". Moderne Impfungen zählen zu den größten Errungenschaften der vergangenen 200 Jahre Menschheitsgeschichte. Beginnend mit den Versuchen Edward Jenners im England des späten 18. Jahrhunderts mit Kuhpocken, wurden durch die Entdeckung, Weiterentwicklung und Verbreitung moderner Impfstoffe und -methoden Millionen Leben gerettet - mehr als durch jeden anderen medizinischen Eingriff. Allein Masernimpfungen haben laut WHO in den vergangenen 19 Jahren mehr als 20 Millionen Leben gerettet. Auch die oft lebenslang beeinträchtigenden Komplikationen vieler Infektionserkrankungen konnten deutlich reduziert werden.

Impfen wirkt: Nach unzähligen Impfkampagnen konnten 1980 die Pocken, eine Erkrankung mit hoher Ansteckungs- und Sterblichkeitsrate, als ausgerottet erklärt werden. Die spinale Kinderlähmung (Polio) ist heute den meisten wohl nur noch aus Erzählungen der Großelterngeneration oder durch den Vermerk im Impfpass ein Begriff. 2019 gab es für diese mit schweren Lähmungen vergesellschaftete Erkrankung weltweit nur zwei Verbreitungsorte: Afghanistan und Pakistan.

Die Rückkehr der Masern

Man könnte meinen, mit so durchschlagenden Erfolgen würde die weitere Ausmerzung von Krankheiten wie etwa Masern oder Röteln in greifbare Nähe rücken. Dem ist aber leider nicht so. In den vergangenen Jahren zeigte sich eine erschreckende Tendenz, bei der trotz steigender Impfzahlen global betrachtet immer wieder durch Gebiete mit abnehmenden Impfzahlen Infektionskrankheiten, die durch konsequentes Impfen eigentlich schon ausgerottet sein könnten, wieder aufflammen. So waren laut WHO bis 2016 die Masernfälle weltweit rückläufig - seither steigen sie wieder. In Europa hat sich 2018 die Masernrate im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht und im Vergleich zu 2016 verfünfzehnfacht. 2019 wurden in Österreich mit mehr als 145 Fällen fast doppelt so viele gemeldet wie 2018. So entfernt man sich leider immer mehr vom im Europäischen Impfaktionsplan für 2015 bis 2020 genannten Ziel, die Masern (und auch die Röteln) bis Ende 2020 zu eliminieren, da neuesten Daten zufolge lediglich vier Mitgliedstaaten überhaupt die nötige Durchimpfungsrate von 95 Prozent oder mehr erreichen.

Die Ursachen für diese ernüchternde weltweiten Entwicklung sind vielfältig und reichen von schlecht geplanter und durchgeführter staatlicher Impfpolitik über armutsbedingt schlechten Zugang zu Impfungen bis hin zu zögerlichem Impfen, (religiös motivierter) Impfverweigerung oder gar Impfgegnerschaft.

"Man kann trotz Impfung erkranken", ist nicht selten zu hören. Nun, keine Impfung vermag ausnahmslos alle Geimpften zu schützen, genauso wie kein Medikament bei sämtlichen Patienten wirkt. Allerdings kann sie das Erkrankungsrisiko deutlich senken sowie die Komplikationen bei einer Erkrankung reduzieren und abschwächen. Ein Erkrankungsgrund kann eine nicht rechtzeitig durchgeführte Auffrischung oder ein noch nicht vollständig aufgebauter Immunschutz sein.

Die Angst vor Impfschäden

Oft werden "Impfreaktionen" als Motiv genannt, die von "Impfkomplikationen" zu unterscheiden sind. "Impfreaktionen" wie eine an der Einstichstelle auftretende Rötung, Schwellung oder Druckschmerz sind per se keine Nebenwirkungen, sondern ein Zeichen der beginnenden Reaktion des Körpers auf den Impfstoff, genauer gesagt der Bildung von Antikörpern. Da das kindliche Immunsystem noch unreif ist, kann es währenddessen zu einer überschießenden Reaktion in Form von Fieber kommen, das nach ein bis zwei Tagen wieder ablassen sollte, aber oft mit Mattheit verbunden ist. Bei Temperaturen ab 38,5 Grad wird eine medikamentöse Fiebersenkung empfohlen.

"Impfkomplikationen" hingegen sind schwerwiegende dauerhafte Folgen einer Impfung, die äußerst selten auftreten und deren Nachweis einer Korrelation zwischen Impfung und Komplikation nur schwer zu erbringen ist. Geimpft werden (hoffentlich) fast alle Kinder. Somit ist nicht verwunderlich, dass Gesundheitsstörungen und Erkrankungen, die im Kindesalter gehäuft auftreten, zufällig in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung stehen.

Auch dass "früher Kinder die Infektionskrankheiten durchgemacht und gut überstanden haben", ist kein Argument. Ja, manche Infektionskrankheiten können folgenlos ausheilen. Doch sie haben Komplikationen mit teils schwerwiegenden Folgen. So wird Mumps oft als harmlos abgetan, löst aber in bis zu 30 Prozent der Fälle bei männlichen Erkrankten eine Hodenentzündung aus, die zu lebenslangen Fruchtbarkeitsstörungen führen kann. Und eine Rötelinfektion in den ersten acht Schwangerschaftswochen verursacht bei bis zu 90 Prozent der Embryos dauerhafte Schädigungen oder gar den Tod des Kindes. Die Spätfolgen dieser Erkrankungen waren vor 20, 30 oder 50 Jahren teilweise noch nicht erforscht.

Der Begriff "Kinderkrankheit" bedeutet übrigens nicht, dass die Krankheit harmlos ist, sondern dass sie lange Zeit bevorzugt im Kindesalter auftrat. Eine Erkrankung im Erwachsenenalter ist sehr wohl möglich. Die Wichtigkeit von Impfungen betrifft nicht nur Säuglinge und Kinder. Sie bieten in vielen Fällen einen Schutz auf viele Jahre und schützen nicht nur die Geimpften, sondern auch jene, die nicht geimpft werden können: etwa Personen mit einem Immundefizit, sei es angeboren oder durch Chemotherapie oder Immunsupression verursacht; oder Neugeborene, deren Nestschutz durch die Mutter nicht ausreichend oder zu kurz wirksam ist.

Die moderne Medizin kann längst nicht alles heilen, abmildern oder verhindern, was uns tagtäglich an (unsichtbaren) Gefahren auflauert. Aber genau in jenem Bereich, in dem wir uns und die Gesellschaft samt ihren schwächsten und schutzbedürftigsten Mitgliedern effektiv und sicher schützen können, sollen - nein, müssen - wir das tun.

Dieser Gastkommentar ist auch im MKV-Magazin "Couleur" erschienen.