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An der heutigen Realität vorbei konzipiert

Von Marco Büchl

Gastkommentare

Das Bundesheer als Rumpftruppe oder Sumpftruppe? Womit Ex-Verteidigungsminister Starlinger recht hatte, was er wie viele andere verschwiegen hat und wohin die Reise für das Bundesheer mit der ersten Frau am Steuer gehen sollte.


Thomas Starlinger, der Verteidigungsminister der von Brigitte Bierlein geführten Übergangsregierung, ließ während seiner Amtszeit nicht viele Gelegenheiten aus, um auf den desolaten Zustand des Bundesheers hinzuweisen und mehr Geld für die Truppe zu fordern. Jeder, der sich auch nur oberflächlich mit der Materie beschäftigt, muss dem Brigadegeneral zustimmen. Allerdings wäre es viel zu kurz gegriffen, aus wehrpolitischer Sicht alleine eine Erhöhung des Verteidigungsbudgets ins Visier zu nehmen. Damit würde zwar den unmittelbaren Zerfallserscheinungen des Bundesheers in seiner derzeitigen Gestalt Einhalt geboten und seine Einsatzbereitschaft auf dem Papier erhöht. Davon völlig unberührt bliebe aber die Tatsache, dass die Streitkräfte pragmatisch betrachtet an der Realität unserer Zeit vorbei konzipiert sind.

Das Bundesheer ist im Prinzip eine Armee für die Ära des Westfälischen Staatensystems, eingedampft auf den limitierten politisch-finanziellen Willen der österreichischen Politik im supranationalen Zeitalter. Wir unterhalten eine Vielzahl jener Waffensysteme, über die ein tatsächlich souveräner Staat verfügen will, um seine territoriale Integrität zu verteidigen, bringen aber auf der anderen Seite nicht annähernd den politischen Willen auf, diese auch adäquat zu finanzieren. Ganz zu schweigen davon, dass wir schon lange kein souveräner Staat im westfälischen Sinn mehr sind. Daraus resultiert eine dysfunktionale Scheinarmee, die bestenfalls als Sandkastenspielzeug für romantisch-retrospektive Fantasien mancher Heeresangehöriger dienen kann, in der realen Welt aber wenig Sinn macht. Das wird anhand der besonders kostspieligen Beispiele der Panzertruppe, der Luftraumverteidigung und der allgemeinen Wehrpflicht in ihrer derzeitigen Form verdeutlicht.

Fragwürdige Panzerabwehr

Das Bundesheer unterhält derzeit ein Panzerbataillon mit etwa 40 Kampfpanzern des Typs Leopard 2 A4. Gemäß konventioneller Doktrin werden Panzerkräfte offensiv für mobile Operationen in der Tiefe des gegnerischen Raumes eingesetzt und defensiv gegenüber angreifenden feindlichen Panzerformationen. Da wir für unser Heer offensive Designs für die nächste Zeit wohl ausschließen können, bleibt als mögliches Einsatzprofil nur die Abwehr eines Panzerangriffs von außen. Einmal abgesehen davon, wie realistisch diese Annahme in absehbarer Zukunft ist, könnten die verfügbaren Kräfte ohnehin keinem gepanzerten Angriff eines unmittelbar oder mittelbar benachbarten Landes - Ausnahmen sind vielleicht Luxemburg und Liechtenstein - länger als bis zur ersten Begegnung widerstehen.

Das immer wieder vorgebrachte Argument, das einsame Panzerbataillon in Wels stelle einen Nukleus an Know-how dar, aus dem im Bedarfsfall eine neue Panzerwaffe gebildet werden könne, ist auch keine Rechtfertigung für die Kosten, die es verursacht. Grundwehrdiener können an diesem komplexen Waffensystem in sechs Monaten zu wenig mehr ausgebildet werden, als dass sie im Einsatzfall als Kanonenfutter dienen würden, und verlieren ihr limitiertes Wissen nach der Ausmusterung rasch wieder. Sollte Österreich in mittlerer bis ferner Zukunft beschließen, sich mit einer ernsthaften Panzerwaffe auszustatten, macht es mehr Sinn, den Kern dieser Truppe bei einem europäischen Partner an dann aktuellem Gerät ausbilden zu lassen, statt mit Müh und Not zwei Dutzend alternde Leopard-Modelle einsatzbereit zu halten, mit denen dann aus Kostengründen nicht mehr als ein paar Kilometer im Jahr gefahren werden darf.

Unterbewaffnete Eurofighter

In der Luft hat sich die Republik aus Gründen, die wir in aller Klarheit wohl nicht mehr erfahren werden, mit dem Eurofighter Typhoon ausgestattet, einer nicht top-, aber hochmodernen fliegenden Mehrzweck-Waffenplattform. Seine Einsatzprofile umfassen Luftüberlegenheits-, Abfang- und Bodenangriffsaufgaben. Die letztlich nach politischen und nicht nach militärischen Erwägungen beschaffte Austro-Variante war aber bei ihrer Auslieferung schon nur bedingt konkurrenzfähig. Sie stammt aus der ersten, technisch weniger leistungsfähigen Baureihe, und ihr fehlen aus Kostengründen für moderne Luftoperationen kritische Ausstattungsmerkmale. Ersatzteile sind schon herstellerseitig knapp bis nicht verfügbar, was kritische Auswirkungen auf die Einsatzbereitschaft und den Wiederverkaufswert hat.

Bewaffnet ist dieser Austro-Fighter ausschließlich mit Bordkanone und Luft-Luft-Rakete, einer Kurzstrecken-Lenkwaffe für den unmittelbaren Nahbereich bis 25 Kilometer. Im angenommenen Verteidigungsfall müssten wir darauf vertrauen, dass die gegnerische Luftwaffe nicht mit Mittelstrecken-Luft-Luft-Raketen ausgerüstet ist, was die Chancen unserer tapferen Männer in ihren möglicherweise dann zehn tatsächlich fliegenden Kisten signifikant reduzieren würde. In der Luftraumüberwachung kommt das natürlich nicht zum Tragen; nicht zuletzt, weil Eurofighter-Flugstunden mit gut 30.000 Euro so unerträglich teuer sind, dass dafür nach Möglichkeit unbewaffnete, 50 Jahre alte Saab-Trainingsflugzeuge eingesetzt werden.

Sechs Monate sind zu wenig

Bleibt die allgemeine Wehrpflicht. Jeder, der behauptet, in sechs Monaten ließen sich auch nur einigermaßen feldverwendungstaugliche Soldaten ausbilden, ist entweder ein hoffnungsloser Dilettant oder lügt vorsätzlich. In dieser begrenzten Zeit kann man niemandem Infanterietaktik und den einigermaßen professionellen Umgang mit Infanteriewaffen beibringen, von komplexeren Waffensystemen und Aufgaben ganz zu schweigen. Würden wir diese Männer nach sechs Monaten tatsächlich ins Gefecht schicken, wären sie bestenfalls eine Gefahr für sich selbst, nicht aber für jeden denkbaren Opponenten weit über die Grenzen Europas hinaus. Tatsächlich transferieren sie freilich gegenwärtig in eine Miliz, die aus Kostengründen nicht übt, oder werden gleich zu Reservisten, um das wenige, was sie militärisch gelernt haben, in Windeseile wieder zu vergessen.

Neue Verteidigungspolitik

Keine der politischen Parteien, in deren Verantwortung das Verteidigungsministerium in den vergangenen Jahrzehnten lag, wagt diese Dinge auch nur einigermaßen offen zu diskutieren, geschweige denn in Sachen einer Landesverteidigungsreform, die diesen Namen verdient, aktiv zu werden. Statt verantwortungsvoller Staatspolitik im Sinne des Bundesheers wird mit dem Bundesheer Parteipolitik gemacht. Das ist selbst bei dem geringen Anteil am BIP, den sich Österreich für seine Streitkräfte leistet, ein viel zu teures Investment bei keiner erkennbaren Rendite. Was es braucht, sind eine Neuerfindung österreichischer Verteidigungspolitik im Rahmen europäischer Realitäten und eine radikale Homogenisierung der Streitkräfte im Kontext des realpolitisch existierenden Finanzierungswillens.

Im Zusammenhang mit allen mechanisierten (also sich auf Ketten fortbewegenden) Kräften und der Luftkampfkapazität des Heers kann das eigentlich nur ein Vorgehen nach der Devise Auflösen, Ausmustern, Abschreiben bedeuten. Den Kern eines neuen Bundesheers könnte in der Folge eine motorisierte, hochmobile Infanterietruppe bilden, die mit tragbarem Panzer- und Luftabwehrgerät ausgerüstet ist. Solche Einheiten können mit der entsprechenden Ausrüstung und Ausbildung effektiver als bisher Katastrophenschutzaufgaben erfüllen, nach außen unsere Verpflichtungen im Rahmen internationaler Missionen wahrnehmen und für den Verteidigungsfall in asymmetrischen Guerilla-Taktiken trainiert werden. Die Idee, dass wir irgendjemanden in offener Feldschlacht niederringen könnten, war spätestens seit 1945 eine tollkühne und würde damit endlich auch offiziell zu Grabe getragen werden.

Daneben sollte sich das Bundesheer im Kontext europäisch-nordatlantischer Partnerschaften auf militärische Kompetenzen wie ABC-Abwehr und das Pioniergeschäft konzentrieren, für die unsere Streitkräfte schon heute eine international positive Reputation genießen. Während die Lufttransportkapazitäten mit Starr- und Drehflügelmaschinen auch im Hinblick auf Katastrophenschutz-Aufgaben ausgebaut werden sollten, kann die Luftraumüberwachung mit Radar und wenigen, leichten und kostengünstigen Aufklärungsflugzeugen oder auch Drohnen ausgeführt werden. Eine eventuelle Luftraumverteidigung kann angesichts der Limitationen des österreichischen Eurofighters wesentlich effizienter und kostengünstiger mit relativ wenigen Boden-Luft-Raketen-Batterien, wie etwa dem amerikanischen Patriot-System, bewerkstelligt werden.

Das Heer neu ausstatten

Das waren nur ein paar initiale Gedanken in Bezug auf die mit den größten Kosten verbundenen Paradoxien der österreichischen Verteidigungspolitik. Darüber hinaus müsste natürlich auch noch über andere Themen wie zum Beispiel Personalpolitik, Gliederung und Standorte diskutiert werden. Die Architekten einer zukünftigen Verteidigungspolitik sollten sich entlang dieser oder ähnlicher Leitlinien ein tatsächlich sinnvolles Portfolio von Aufgaben für das Bundesheer einfallen lassen. Sie müssten ihm dann eine Form und Struktur verleihen, mit der es seine Aufgaben erfüllen kann, und es mit dafür ausreichenden Mitteln ausstatten.

Wenn das Bundesheer damit aus seinem jahrzehntealten Dilemma befreit wird, eine in Bezug auf seine Kernaufgabe impotente Organisation zu sein, wenn es sich als schließlich effiziente Organisation von dem nur in weiten Teilen, nicht aber vollends unverdienten Ruf befreien kann, ein Sammelbecken für Zivilversager, Gestrige und tendenzielle Sadisten zu sein, dann lässt sich auch eine schrittweise Ausdehnung der Wehrpflicht - oder, Gott behüte, ein Umstieg auf eine Berufsarmee - politisch argumentieren und durchsetzen.

Natürlich muss man bei einem solchen Vorhaben mit signifikantem Widerstand rechnen, nicht zuletzt aus Kreisen der betroffenen Waffengattungen und des Verteidigungsministeriums. Wer verlässt schon gerne seine alteingesessene Komfortzone und gibt sein Spielzeug her? Pragmatisch betrachtet gebietet es aber die staatspolitische und fiskalische Verantwortung, solchen Widerstand zu brechen.

John Lewis Gaddis, Doyen der US-Strategieforschung und Yale-Professor für Militär- und Marinegeschichte, definiert Strategie dergestalt, seine Ambitionen mit seinen Fähigkeiten und Ressourcen in Einklang zu bringen. Mit Klaudia Tanner wurde vor einem Monat die erste Verteidigungsministerin in der Geschichte Österreichs angelobt. Es wäre ein schöner, doppelter Paradigmenwechsel, wenn die erste Frau in diesem Amt die erste wahrlich strategische Heeresreform der Zweiten Republik anstoßen würde.