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Hurra, wir sind . . . leider nein!

Von Dieter Michael Grohmann

Gastkommentare

Woher kommt der Hang, als ganze Nation einzelne Landsleute erst zu vereinnahmen - und dann wieder fallen zu lassen?


Oscar-nominiert! Oder leider doch nicht. Der österreichische Film "Joy" von Sudabeh Mortzai wurde von der Academy wegen angeblicher Richtlinienverletzung abgelehnt. Die Entscheidung ist inhaltlich nicht nachzuvollziehen und kam formal zu spät, um aktiv zu werden, wie einschlägige (Fach-)Medien bereits berichtet haben. Völlig zu Recht protestierte der Fachverband des österreichischen Films dagegen. Nutzen wird das leider freilich nichts mehr. Und nächstes Jahr sind wieder neue Filmeschaffende und deren Werke im Rennen um knapp 4 Kilo mit Kultfaktor in Goldhaut.

Wir wurden also mies behandelt, und die Kunstseele des Volkes kochte hoch beziehungsweise wurde künstlich hochgekocht. Der Skandal mag dem Film allerdings mehr Publicity einbringen als eine bloße Nominierung mit unsicherem Ausgang. Auch wenn grundsätzlich solche Themen gesellschaftspolitisch wichtig sind, so stellt sich dann auch die Frage der künstlerischen Komponente. Über das Interesse außerhalb einschlägiger Kreise will ich nicht philosophieren, denn Massentauglichkeit und Kunst haben meist so viel miteinander zu tun wie "Schöne Künste" und "Gebrauchsgrafik". Über Kunst und Geschmack lässt sich ja trefflich streiten - oder auch nicht.

Immerhin haben wir ja den Nobelpreis! Wie bitte? Wir? Was soll diese nationalistische Vereinnahmung durch das Kollektiv? "Wir" sind gar nichts. "Wir" sind auch nicht Olympiasieger, Weltmeister oder Nobelpreisträger. Den Nobelpreis für Literatur hat Peter Handke erhalten. Wir können ihm dazu gratulieren, wir dürfen uns auch darüber freuen, dass jemand aus unseren Reihen, aus unserem schönen Land etwas mehr oder weniger Bedeutendes gewonnen hat. Viele von uns können genauso wenig interessante oder fesselnde Romane schreiben, wie wir in unter zwei Minuten die Streif hinabzurasen vermögen. Aber im Moment der Meldung ist das ebenso vergessen wie all die Verachtung, Verletzungen und Desinteresse, die wir dem nun Geehrten dereinst entgegengebracht haben. Jetzt ist er (oder sie) Liebling der Nation, und "wir" sind zum Beispiel Nobelpreis.

Woher kommt dieser Hang, sich mit fremden Federn zu schmücken? Selbst keine Leistung erbracht haben, immer fest kritisieren, heruntermachen, aber im Moment des (meist von außen, im Ausland herantrabenden) Erfolgs wird der oder die "plötzlich Entdeckte" unser aller Protegé, dessen Unterstützer wir ja schon immer waren. Doch wenn der Ruhm verblasst, kriecht die Armee der Totengräber wieder hervor. "Na, so gut ist er auch nicht. Das war ja nur ein einzelner Erfolg, aber sonst . . ." Große Landsleute und Künstler wie Falco, Oskar Werner, Herman Nitsch, Thomas Bernhard oder Christoph Waltz könnten ganze Opern davon singen. Man muss ihre Kunst ja nicht mögen, aber die Freiheit dazu muss gewahrt bleiben.

Erst im Ableben wird der Getretene eventuell wieder in die Volksgemeinschaft aufgenommen, sofern er nicht vorher schon zu Tode vergessen oder ein kleines schmutziges Detail bekannt wurde. O Gott: Der Künstler hat falsch geparkt, zu viel getrunken oder irgendwann einmal etwas zu einem missliebigen Thema oder Politiker gesagt, was nicht den Vorgaben einer selbsternannten Moralkommission entspricht. Und schon sattelt die moralisch einwandfreie Schnappatmungsgesellschaft zur Treibjagd. Gewürze wie "Metoo", "Nazi", "Putin-Versteher", "Kapitalistenschwein" oder "Öko-Sau" garnieren auf der Schlachtplatte die Erlegten.

Der Künstler und sein Werk

Der Hetzjagd bedarf es nicht in einem funktionierenden Rechtsstaat. Verbrecher sind rechtskräftig zu verurteilen - doch davor gilt die Unschuldsvermutung! Darüber hinaus stellt sich die Frage: Kann man das Werk vom Künstler getrennt betrachten? Interessanterweise wird bei einer gewissen politischen Provenienz der Täter medial ein Auge zugedrückt. Bei allen anderen wird das Filetierbesteck ausgepackt. So darf Sergei Eisenstein mit Fug und Recht als einer der interessantesten und innovativsten Filmemacher seiner Zeit genannt werden. Aber Leni Riefenstahl? Harvey Weinstein, Kevin Spacey, Placido Domingo, Wilhelm Furtwängler? Wie lesen wir heute Mark Twains "Huckleberry Finn"?

Nun, da ist genau das Problem. Über politische Ideologien lässt sich trefflich streiten, aber über Kunst? Ist Kunst nur gut, wenn sie politisch ist und nur einer gewissen Ideologie zudient, und zwar aus dem Blickwinkel des Heute und nicht aus der Zeit der Entstehung heraus? Alles andere wäre demnach - was? Entartet (um bewusst diesen Begriff zu verwenden) oder bloß naiv, lächerlich? Und muss daher verboten, unterdrückt oder umgeschrieben werden, damit nur ja nicht Applaus von der falschen Seite kommt.

Es herrscht wieder (diesmal von einer anderen Seite) eine Unfähigkeit zur Meinungsvielfalt. Um die Demokratie beziehungsweise die Freiheit (der Kunst) zu schützen, müsse diese eingeschränkt werden, notfalls mit totalitären Methoden. Es dünkt einen, dass in der Rezeption und Proklamation, was wertvoll sei in Europa und speziell in Deutschland (sowie Appendix-artig in Österreich), zuerst geschaut wird, welcher Wertegemeinschaft der Schöpfer angehört, um danach das Prädikat "wert(e)voll" zu vergeben. Das ist dann Kunst mit Haltung. Was einst Nazi-, DDR-, stalinistische beziehungsweise Sowjet-Umtriebe waren, ist heute in der Mitte der Online-Gesellschaft angekommen. Genauso wie aus Bildung reine Ausbildung wurde, wurde aus intellektuellem Diskurs betreutes beziehungsweise vorgegebenes Denken. Wer es noch immer nicht begriffen hat, wird mit der "How dare you"- Sense umgehackt.

Und da so vielen die Fähigkeit zur Bildung einer eigenen Meinung abgenommen wurde und wird, darf man sich zumindest darüber freuen, dass "wir" nun Nobelpreisträger sind. Vergessen wir bitte auch nicht, dass an den Tagen nach den Events wie etwa der Oscar-Verleihung der Hauch von Nichts, den die weiblichen Stars bei der Gala als Bekleidung vorgeführt haben, mehr Interesse generiert als die meisten Gewinnerinnen und Gewinner in den verschiedenen Kategorien. Also tief durchatmen: It’s the Oscars, Baby!