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Warum sagt der EU-Außenminister die Unwahrheit?

Von Christian Ortner

Gastkommentare

In der Frage der Seenotrettung im Mittelmeer verbreitet Josep Borell Fake News. Das schadet dem Ansehen der EU.


Nachdem sich Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz jüngst gegen eine Wiederaufnahme der europäischen Marine-Mission "Sophia" im Mittelmeer ausgesprochen hatte, weil EU-Schiffe vor der afrikanischen Küste Migranten anlocken würden und so zu mehr Ertrunkenen führten, zog er sich prompt eine Rüge des EU-Außenbeauftragten Josep Borell zu. "Es stimmt nicht, dass die Marine-Mission ,Sophia‘ zusätzliche Migranten anzieht und dazu führt, dass die Migration nach Europa weiter steigt" - so zieh Borell den Kanzler der Lüge. Und: "Ich verstehe die grundsätzlichen Bedenken aus Österreich und anderen Ländern. Aber es gibt dafür keine Belege."

Hier irrt der Quasi-Außenminister der EU in einem höchst irritierenden Ausmaß. Will man nicht unterstellen, dass er bewusst die Unwahrheit sagt, muss man ihm jedenfalls einen erstaunlichen Mangel an Faktenwissen attestieren. Ein Wissen, das er sogar quasi im eigenen Hause hätte abrufen können. Etwa, indem er Fabrice Leggeri, den Chef der EU-Grenzschutzeinheit "Frontex", angerufen hätte. Der hat bereits vor zwei Jahren gewarnt: "Wir müssen verhindern, dass wir die Geschäfte der kriminellen Netzwerke und Schlepper in Libyen nicht noch dadurch unterstützen, dass die Migranten immer näher an der libyschen Küste von europäischen Schiffen aufgenommen werden. Das führt dazu, dass die Schleuser noch mehr Migranten als in den Jahren zuvor auf die seeuntüchtigen Boote zwingen" ("Die Welt", 27. Februar 2017).

Herr Borell hätte aber auch bei Gerald Knaus nachfragen können. Der Österreicher ist kein rabiater Rechtspopulist, sondern berät unter anderem Angela Merkel in Migrationsfragen und gilt als Vater des sogenannten "Türkei-Deals" zur Begrenzung der illegalen Migration. Der hat im August 2019 diagnostiziert, dass es ganz klar einen Zusammenhang gibt zwischen der staatlichen oder privaten Seenotrettung und der Anzahl der im Mittelmeer ertrunkenen Migranten. Je mehr Rettungsschiffe vor der libyschen Küste kreuzen, so das Argument Knaus’, umso mehr Menschen gehen auf die Schlepperboote. Und das bewirkt, dass mehr Menschen, die sich diesen Seelenverkäufern anvertraut haben, ertrinken.

Der EU-Außenbeauftragte hätte sich schließlich auch die "Neue Zürcher Zeitung" vom 14. Dezember 2019 bringen lassen können, um seinen Sachstand auf die Höhe der Zeit zu bringen. Dort wurde über eine Studie der Ökonomen Claudio Deiana, Vikram Maheshr und Giovanni Mastrobuoni zu diesem Thema berichtet. "Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Seenotrettung insgesamt kaum einen Sicherheitsgewinn bringe, da sie Überfahrten verbillige und so die Nachfrage erhöhe", fasste die NZZ nüchtern zusammen.

Nun stimmt schon: Die Frage, wie viele Migranten die Überfahrt wagen, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab - aber die organisierte Aufnahme von Zuwanderern nahe der afrikanischen Küste ist zweifellos einer davon. Indem der EU-Außenbeauftragte dieses Faktum schlicht und einfach leugnet, erweist er damit letztlich auch der EU keinen guten Dienst.