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Wenn die Digitalisierung vor der Einsamkeit rettet

Von Gerald Schöpfer

Gastkommentare
Gerald Schöpfer ist Wirtschaftshistoriker und Präsident des Österreichischen Roten Kreuzes.
© ÖRK/Nadja Meister

Die bisher oft verteufelten Sozialen Medien können uns jetzt davor bewahren, in soziale Isolation zu verfallen.


Für viele ist sie der Gottseibeiuns. Die Rede ist von der Digitalisierung. Millionen von Arbeitsplätzen würde sie vernichten, Algorithmen übernähmen schleichend die Macht und würden vorgeben, was wir zu denken und zu tun hätten. Von den vielen Digitalisierungsteufeln, die Endzeit-Apologeten an die Wand malen, werden schon einige eine tatsächliche Gefahr darstellen. Ich möchte aber eine Lanze für die Digitalisierung brechen.

Uns alle eint derzeit ein großes Ziel: Wir wollen die Verbreitung von Covid-19 eindämmen und verlangsamen, damit unser Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Dafür müssen wir etwas machen, das der Natur der meisten Menschen zuwiderläuft. Wir müssen eine Zeit lang darauf verzichten, uns persönlich zu treffen. Die Digitalisierung kann uns jetzt davor bewahren, in soziale Isolation zu verfallen. Skype, Whatsapp, Facebook & Co können so zu einem "Medikament" werden, das uns dabei unterstützt, unsere psychische und physische Gesundheit zu erhalten.

Wir wissen nämlich, dass Einsamkeit krank macht: Je einsamer ein Mensch ist, desto höher ist sein Blutdruck. Das hat eine Studie bei Personen im Alter von 50 bis 68 Jahren ergeben. Soziale Isolation hat zudem eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben, um 25 Prozent zur Folge. Die negativen Auswirkungen von Einsamkeit und sozialer Isolation auf die Gesundheit und die Lebenserwartung sind sogar größer als jene der Risikofaktoren Luftverschmutzung, Bewegungsmangel, schlechte Ernährung, Übergewicht, Rauchen oder starker Alkoholkonsum.

Wir müssen also unbedingt in Kontakt bleiben - mit unseren Kindern, Eltern, Großeltern und Freunden. Die Voraussetzungen, dies auf Distanz tu tun, waren nie besser. Das Internet ist längst nicht mehr ausschließlich der Tummelplatz der Jungen. Bereits mehr als die Hälfte der 65- bis 74-Jährigen surfen im Netz. Bei den etwas jüngeren sind es sogar 80 Prozent.

All jenen, die die Vorzüge der digitalen Kommunikation noch nicht für sich entdeckt haben, können wir, soweit das möglich ist, in den nächsten Tagen fernmündlich noch auf die Sprünge helfen. Schon klar, dass die Sozialen Medien den persönlichen Kontakt nicht auf Dauer ersetzen können - aber über einen begrenzten Zeitraum ist das eine gute Alternative. Die digitale Kommunikation führt nämlich ebenfalls zur Ausschüttung von Oxytocin, dem sogenannten Bindungshormon. Natürlich dürfen wir jene, die sich Facebook, Whatsapp & Co verweigern, nicht alleine zurücklassen. Da heißt es dann nach wie vor: zum Telefonhörer (beziehungsweise zum Handy) greifen.

Wenn wir uns jetzt diszipliniert an die Vorgaben halten, physischen Abstand voneinander halten und emotionale Nähe digital schaffen, dann werden wir uns an den Frühlingsbeginn 2020 als ein Intermezzo erinnern. Denn bald werden sie wieder da sein: die Tage, an denen Freunde einander mit Handschlag begrüßen und Großeltern ihren Enkeln ein Bussi auf die Wange drücken. Bis dahin verschicken wir eifrig Smileys.