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Das "Sanitätsregime" und die Freiheit

Von Edmund Primosch

Gastkommentare
Edmund Primosch ist Legist und Leiter des Verfassungsdienstes im Amt der Kärntner Landesregierung.
© privat

Die aktuelle Situation ist kein staatlicher Notstand oder Ausnahmezustand.


Die Abkehr vom Gewohnten, die wir derzeit erleben, erweckt Unbehagen, nicht nur des Coronavirus wegen. Nicht zuletzt wird die Freiheit im privaten, zivilen und wirtschaftlichen Leben auf eine seit langem nicht bekannte Weise durch ein "Sanitätsregime" eingeschränkt. Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die aktuelle Lage nicht einen Notstand beziehungsweise Ausnahmezustand des Staates darstellt: Dieser würde nämlich den Ausfall aller staatlichen Funktionen voraussetzen, in der liberalen Demokratie insbesondere des Parlaments. Gerade das rasche Tätigwerden des Bundesgesetzgebers, um geeignete Rechtsgrundlagen zu schaffen, beweist eindrucksvoll die staatliche Handlungsfähigkeit. So wurde das Epidemiegesetz, dessen Stammfassung noch aus dem Jahr 1913 (!) herrührt und 1950 wiederverlautbart wurde, nunmehr durch das sanitätspolizeiliche Verbotsinstrumentarium des Covid-19-Maßnahmengesetzes ergänzt.

Der Ansteckungsgefahr soll mit Durchführungsverordnungen begegnet werden, also durch generelle Verwaltungsakte. Bundesminister, Landeshauptmann und Bezirksverwaltungsbehörde sind - mit unterschiedlichem territorialem Einzugsbereich - befugt, auf Grund der Gesetze tätig zu werden, wobei lediglich die gesetzlich festgelegten Konturen präzisiert werden dürfen. Eine verfassungsrechtliche Generalermächtigung oder Generaldelegation, wie sie im Staatsnotstand üblich ist, wird den Sanitätsbehörden zur Bewältigung der Krise nicht eingeräumt. Die behördliche Befugnis, etwa Betretungsverbote für Betriebsstätten oder öffentliche Orte oder Maßnahmen gegen das Zusammenströmen größerer Menschenmengen zu erlassen, erfließt ausschließlich aus dem parlamentarisch erzeugten Gesetz. Die Verordnungen unterliegen überdies der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle, ferner haftet der Bund für hoheitliches Vollzugsunrecht.

Grund- und Menschenrechte gelten in Österreich ohne zeitliche Differenzierung. Auch die Sanitätsbehörden dürfen sie nicht suspendieren. Zudem heiligt die sanitätspolizeiliche Vorsorge nicht alle Mittel: Um die Freiheitssphäre weitestmöglich zu sichern, sind Eingriffe nur dann zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind und schwerwiegende Interessen verfolgen. Dabei ist jeweils die Verhältnismäßigkeit zu wahren und eine minutiöse Abwägung vorzunehmen: Das Maß der Belastung, die in der Freiheitseinbuße liegt, muss in einem vernünftigen Verhältnis zu den Vorteilen stehen, die der Allgemeinheit aus den ergriffenen Maßnahmen erwachsen. Dies gilt auch für die Dauer der Maßnahmen.

Vor der Erlassung einer Verordnung bedarf es jedenfalls sorgfältiger und detailliert belegter Feststellungen sowie nach ihrer Erlassung einer regelmäßigen Überprüfung, ob die Voraussetzungen für ein behördliches Verbot überhaupt (noch) gegeben sind. Dies umso mehr, als sich die einschlägigen Gesetze unbestimmter Begriffe und Generalklauseln bedienen, die dem krisenbeherrschenden "Sanitätsregime" ein hohes Maß an Entscheidungsmacht einräumen. Im Spannungsfeld zwischen Vorsorge und Freiheit trägt die Politik überaus schwere Verantwortung.