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Bagatellisierung oder Alarmismus?

Von Franz Schandl

Gastkommentare
Franz Schandl ist Historiker und Publizist, 1986 war er Mitbegründer der Grünen Alternative. Er ist Redakteur der Zeitschrift "Streifzüge" (www.streifzuege.org).
© privat

Wir sind Teil des größten globalen Experiments der Geschichte.


Allesamt haben wir Schwierigkeiten, mit dieser Krise zurechtzukommen. Emotionell wie intellektuell. Können wir den Status realistisch einschätzen? Kaum. Kann die Regierung das? Man hofft, aber sicher ist da gar nichts. Außerdem: Sagen sie uns alles? Wir wissen so viel und wissen doch eigentlich wenig. Tatsächlich ist man perplex, überwältigt und außerstande, sich ein seriöses Bild zu machen und relevante Aussagen zu treffen. Das ist eine beängstigende Konstellation, die man auch nicht einfach überspielen soll. Schon gar nicht mit Zynismus. Wir sind ausgeliefert, weil eine unsichtbare und unbekannte Kraft auf unsren Körper zuzugreifen droht. Wehrlos, wie wir uns wähnen, sperren wir uns weg. Da gibt es keine Erfahrung. So fällt man leicht von der Bagatellisierung in den Alarmismus. Letzterer dominiert aktuell den Modus der Politik.

Beunruhigend sind Entwicklungen ganz unterschiedlicher Natur. Einerseits ärgert das absolut rücksichtslose Abfeiern von Corona-Partys, wie sie voriges Wochenende stattgefunden haben, immens. Da sind einige so megacool, dass ihre Kälte gegenüber den Mitmenschen als gemeingefährlich eingestuft werden muss. Andererseits gilt es auch aufzupassen, dass eifrige Blockwarte nicht jede lebendige Regung bei den Behörden anzeigen und so der Tendenz zu polizeilicher und privater Überwachung Vorschub leisten. Auffällig ist weiters die martialische Kampfrhetorik: Da ist unentwegt die Rede von Helden, vom Durchhalten und natürlich vom nationalen Schulterschluss. Warum aber muss diese Krise sapperlot immer als Krieg und Nation gedacht werden?

Das Virus hat eine Lawine losgetreten. Regierungen reagieren hyperaktiv. Die Zeitungen sind voll, die Sendungen quellen über, und in den Sozialen Medien wird ein Schneebrett nach dem anderen losgetreten. Das alles erzeugt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann, nicht nur der Form nach, sondern auch betreffend die Inhalte, die da seriell abgespult werden. Alleine die Menge - oder besser: Unmenge - der Meldungen und Daten überfordert. Sie überwältigen uns, halten uns fest und zwingen uns bestimmte Sichtweisen auf. Es gibt keine Zeit mehr, sich damit eingehend auseinanderzusetzen. Können unter solchen Prämissen überhaupt noch Erkenntnisse reifen? Ich bin immer wieder erstaunt, wie unterschiedlich die Urteile von geschätzten Zeitgenossen in meiner Umgebung ausfallen, ja dass diese sich oft diametral widersprechen.

Das gesellschaftliche Gefüge erodiert. Arbeitsplätze und Einkommen werden in rasanter Geschwindigkeit wegrasiert, konservative Regierungen legen staatsinterventionistische Konjunkturpakete auf, gegebenenfalls wird mit Verstaatlichung gedroht. An die reinigenden Kräfte des Marktes appelliert niemand. Nebenbei ergeben sich Effekte, die keine Umwelt- und Klimabewegung je durchsetzen hätte können: Die Industrie wird heruntergefahren, der Verkehr wird drastisch reduziert, der Alltag verliert an Tempo und Lärm. Die Luft wird besser, das Wasser klärt auf, von einer Hektik ist, ausgenommen jener, die in Zusammenhang mit Covid-19 steht, wenig zu spüren. Rettet das Virus gar mehr Leben, als es vernichtet? Die Geschwindigkeiten verlieren ihre Limits und vor allem ihre bisherige Synchronität. Manches wird langsamer, anderes dafür schneller: Die Politik etwa, die gezwungen ist, Entscheidungen binnen Stunden zu treffen, für die sie sonst Jahre braucht.

So gesehen leben wir in interessanten Zeiten. Wir sind Teil des größten globalen Experiments der Geschichte.