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Paradoxien der Hoffnung

Von Peter Moeschl

Gastkommentare
Transport eines Covid-Patienten ins Uniklinikum Salzburg.
© wildbild

In Zeiten der Verwaltung des Mangels gewinnen ökonomische Kalkulationen die Oberhand und pervertieren die Medizin.


"Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch."

Wie kaum ein anderer fasst dieser Satz Friedrich Hölderlins die Hoffnungen der Menschen in Zeiten der globalen Krisen zusammen. Er lässt die Einzelnen weder in Panik noch in lähmende Schreckstarre verfallen. Ohne einem schlichten Fatalismus das Wort zu reden, soll dieser Spruch auch nicht einfach zu blindem Hoffen und Vertrauen anregen. Vielmehr möchte er die Menschen zu einem vernunftgeleiteten Optimismus bewegen - und das sogar im Stande ihres immer ungenügenden Wissens und aus unzureichenden Gründen.

Schließlich hat ja die Menschheit schon bisher eine Vielzahl rationaler Formen ge- und erfunden, um mit ihrem Nicht- oder Noch-nicht-Wissen produktiv umgehen zu können. Man denke bloß an die statistischen Modelle der Wahrscheinlichkeit und deren nicht zu leugnenden prognostischen Erfolge. So ist es heute zur wissenschaftlichen Praxis geworden, die (noch?) unberechenbaren "Gefahren" so weit wie möglich in kalkulierbare "Risiken" zu übersetzen und als solche rational zu handhaben.

Diese zweifellos sinnvolle wissenschaftliche Tradition hat aber auch zu einem, im wahrsten Sinne des Wortes, "vermessenen" Verhalten gegenüber den der Menschheit nur begrenzt (und zwar innerhalb ihres jeweiligen historischen Horizonts) offenstehenden intellektuellen Möglichkeiten geführt. Und das gewiss nicht nur bei den von jedem kritischen Zweifel freien Verschwörungstheoretikern mit ihren pseudowissenschaftlichen Praktiken. Sie hat uns generell dazu verleitet, alle Probleme nur noch unter der rückbezüglichen Perspektive eines "Als-ob-schon-gelöst-Seins" zu betrachten und zu behandeln. Ein beruhigendes "Es wird gewesen sein", ein Futur 2, soll uns schon heute in die zu einer vernünftigen Durchdringung der Probleme erforderliche kognitive Distanz versetzen. Das mag in vielen Fällen zum Erfolg führen. Dass es aber auch für unsere (derzeitigen?) Möglichkeiten des Erkennens und Handelns überdimensionierte und zugleich existenziell bedeutsame Gefahren gibt, wird dabei geradezu systematisch, ja systemisch, übersehen. Darüber allerdings - über diesen aus blindem Optimismus geborenen Realitätsverlust - belehrt uns bereits jetzt die aktuelle Corona-Seuche eines Besseren, von den Dimensionen der Umwelt- und Klimakrise gar nicht zu reden.

Medizinisches Personal im Zwang der Profitabilität

Peter Moeschl war Vorstand der 2. Chirurgischen Abteilung der Krankenanstalt Rudolfstiftung und lebt als Kulturtheoretiker in Wien (Buchtipp: "Privatisierte Demokratie. Zur Umkodierung des Politischen", Verlag Turia + Kant).
© privat

Wie aber ist es so weit gekommen? Und warum gerade jetzt? Im Besonderen war und ist es die sogenannte Management- oder Unternehmensphilosophie, die Hölderlins berühmten Satz zu einer globalen Ideologie des blauäugigen Verhaltens gemacht hat. Sie hat sich dazu verleiten lassen, jede Gefahr nur noch unter dem Aspekt eines (ohnehin immerfort wachsenden) Rettenden zu betrachten. Derart vermeint sie auch, jede Gefahr vorauseilend als Chance interpretieren zu können. Und das heißt im ökonomischen Klartext: "Kümmere dich bei all deinen Aktivitäten nicht um die von dir erzeugten Gefahren, du kannst sie unter dem Aspekt der Chancen als bereits bewältigt - jedenfalls aber als künftig bewältigbar - betrachten." Die unsichtbare Hand des Marktes und deren universelle regulative Kompetenz lassen grüßen . . .

Dass eine derartige Haltung der Verantwortungslosigkeit Vorschub leistet, bräuchte im Grunde gar nicht erwähnt zu werden. Dass sie aber darüber hinaus auch jedes vorausschauende und vorsorgende Denken behindert, muss gerade jetzt, in Zeiten einer bitteren Krisenerfahrung, deutlich gemacht werden.

Gerade jetzt, wo wir mit aller Kraft versuchen müssen, dem Coronavirus in seiner Verbreitung zuvorzukommen, um die weltweit grassierende Seuche in den Griff zu bekommen, kann uns Hölderlins zu einem Kalenderspruch des Positiven Denkens verkümmerter und missbrauchter Satz nicht helfen. Er würde bloß einer Problemverleugnung Vorschub leisten. Hier kann wohl nur ein entschlossenes "whatever it takes" weiterführen. Das hat inzwischen sogar die allein effizienzorientierte neoliberale Ökonomie begriffen, der wir ja letztlich die, ohne entsprechende Reserven kalkulierte, heutige Situation und ihre Dramatik verdanken - eine Dramatik, welche zuerst in der medizinischen Versorgung in Erscheinung tritt.

Schließlich wurde und wird seit Jahrzehnten vom medizinischen Personal verlangt, nicht "nur" effektiv, sprich fachkompetent, nach einer bereits intrinsisch gegebenen Verhältnismäßigkeit der Mittel zum Wohle der Patienten zu handeln und zu entscheiden. Es soll sich vielmehr - und das zuallererst - nach der ökonomischen Effizienz - sprich Profitabilität - der medizinischen Maßnahmen orientieren. Dass das schwerwiegende Folgen für die Qualität zeitigt, wird mittlerweile offensichtlich. So fehlen uns etwa seit Jahren immer wieder essenzielle Medikamente wie Antibiotika, weil deren Produktion in Billiglohnländer ausgelagert wurde und sie nun über internationale Märkte (und deren Volatilität) beschafft werden müssen. Ähnliches gilt für einen großen Teil der medizinischen Gebrauchsartikel und Geräte. Jede Lagerwirtschaft wurde verpönt, "just in time" sollte geliefert werden. Und schließlich galt und gilt der ökonomische Imperativ "just in time" auch für das immer straffer zu organisierende Zeitmanagement der ärztlichen und pflegerischen Zuwendung zum Patienten.

Als besonders kritisch erweist sich aber heute die auftragsgemäße Verknappung von Spitalsbetten weltweit: "A built bed is a filled bed", soll heißen: "Spitalsbettenabbau ist alternativlos, ansonsten würde es nur zu einer medizinisch (!) ungerechtfertigten Bettenbelegung führen" - das war das bisherige Credo der Spitalsökonomie, mit dem wir auch als Ärzte im Alltag bedrängt wurden und das uns heute allen in Gestalt der dramatischen italienischen Verhältnisse auf den Kopf fällt. Und das trotz der bekanntermaßen guten europäischen Medizin im Allgemeinen und dem bis jetzt klugen österreichischen Krisenmanagement im Besondern.

Kultur der mangelnden Vorsorge zwingt zur Triage

Beklagt man sich über diese selbstgemachte Verknappung, so wird oftmals argumentiert, dass für die Wünsche der Medizin ohnehin niemals ausreichende Mittel zur Verfügung stehen werden, es könnte ja immer mehr sein . . . Wenn es also jetzt in der Krise zur sogenannten Triage (einem Selektionsverfahren der Patienten nach deren biologischen Chancen und den verfügbaren ökonomischen Ressourcen) kommen müsse, so sei dies zwar tragisch, aber unvermeidbar. Im Grunde nämlich entscheide der Arzt schon in Normalzeiten darüber, welche medizinische Behandlung für welche Patienten in Frage komme - und das könne man ja ebenfalls als Triage werten.

Gewiss, aber dabei handelt es sich um fachliche Entscheidungen im eigentlichen Sinn. In Zeiten der Verwaltung des Mangels hingegen gewinnen ökonomische Kalkulationen die Oberhand und pervertieren die Medizin. Und genau das unterscheidet fachliches Entscheiden von Triage. Mit anderen Worten: Es ist nicht einfach die Natur der Seuche, die derzeit in Italien und bald auch in anderen Ländern zur Triage zwingt, es ist die uns abverlangte Kultur der mangelnden Vorsorge.

Man darf sich also nicht täuschen: Das Naturphänomen Seuche ist nicht einfach schicksalhaft gegeben und als solches hinzunehmen. Erst unser kultureller Umgang mit der ihr zugrunde liegenden Krankheit entscheidet über die Entstehung und Ausbreitung, über Epidemie und Pandemie mit all den zivilisatorischen Folgen. Zugespitzt könnte man sagen: Die Erkrankung wird zwar durch das Virus definiert, zur Seuche aber wird sie erst durch die Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens. So war und ist unsere neoliberal globalisierte Lebensform der Wegbereiter der aktuellen Seuche, und wir sollten dies zum Anlass nehmen, unsere bisherige Lebensweise zu überdenken und zu ändern. Das kann natürlich nicht einfach Abschottung und Quarantäne bedeuten, wie es momentan, in einer Akutsituation, erforderlich ist. Auf längere Sicht würde dadurch das gesellschaftliche Leben zerstört. Die uns derzeit verordnete körperliche Distanznahme würde dann im wahrsten Sinne zu einer entfremdenden sozialen Distanzierung führen.

So gesehen wäre wohl jetzt der Zeitpunkt gekommen, nicht nur den akuten Problemen durch ein entschiedenes Handeln entgegenzutreten. Wir sollten darüber hinaus beginnen, ernsthaft über eine resiliente gesellschaftliche Produktionsweise nach sozial-ökologischen Kriterien nachzudenken. Jedenfalls müssen wir uns von einem primär effizienzorientierten "Weiter wie bisher" verabschieden. Denn schon heute zeigt sich: Wo das Rettende besonders effizient verknappt wurde, dort wächst die Gefahr auch - exponentiell!