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Wieso der Rotkreuz-Mann neben dem Kanzler steht

Von Michael Opriesnig

Gastkommentare
Michael Opriesnig ist Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes.
© Rotes Kreuz

Das Rote Kreuz bewahrt sich seine Unabhängigkeit.


Die Gründung einer solchen Organisation wäre heute gar nicht mehr denkbar: Ein privater Verein, der Völkerrechtspersönlichkeit besitzt wie sonst nur souveräne Staaten oder Organisationen wie die UNO. Dem es gestattet ist, alle Krisengebiete der Welt zu betreten, um Kriegsopfern zu helfen und sie zu beschützen. So hat es vor mehr als 150 Jahren begonnen. So ist es noch heute.

Der österreichische Ableger dieses Vereins - einer von 192 weltweit - ist von Rettungsdienst, Blutspendedienst, Katastrophenhilfe, Pflegediensten und seiner Jugendorganisation an den Schulen geprägt. Die meisten seiner Aufgaben zählen zur kritischen Gesundheitsinfrastruktur und sind systemrelevant. Dass das Rote Kreuz dabei ständig mit Behörden zu tun hat, ist aber nicht nur eine logische Folge der Verhältnisse, unter denen das Rote Kreuz arbeitet. In seinem Grundsatz der Unabhängigkeit, aber vor allem im Rotkreuz-Gesetz (Bundesgesetzblatt I Nr. 33/2008) ist außerdem sein Hilfscharakter verankert: Es unterstützt die Behörden im humanitären Bereich.

Rückt dieser Zustand das Rote Kreuz in Staats- oder Regierungsnähe? Der private Charakter des Roten Kreuzes und seine im Rotkreuz-Gesetz festgelegte Verbindungen zum Staat sind nicht unvereinbar. Denn der Grundsatz der Unabhängigkeit führt weiter aus, dass es seine "Eigenständigkeit bewahren [muss], die es ihm gestattet, jederzeit nach den Grundsätzen der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung zu handeln." Mit anderen Worten: Die Organisation muss auch ihre anderen Grundsätze befolgen können, allen Menschen in Not ohne Rücksicht auf ihre Nationalität, ethnische Herkunft, Religion, soziale Stellung oder politische Überzeugung einzig nach dem Maß ihrer Not zu helfen; dabei den dringendsten Fällen den Vorrang einzuräumen; allen offenzustehen, die mithelfen wollen.

Mehr als eine "Hilfsgesellschaft" zu sein, ist auch gar nicht möglich. Die allgemeine Aufgabe der Unterstützung benachteiligter Personen ist prinzipiell Sache der Staaten. Sie müssen ihre Bürgerinnen und Bürger schützen. Sie allein besitzen die notwendige Autorität und ausreichende Ressourcen, um einer solchen umfassenden Aufgabe gewachsen zu sein. Das Rote Kreuz kann nicht an ihre Stelle treten, sondern nur einen seinen Kräften entsprechenden Beitrag leisten.

Das ist auch während der Corona-Krise so. 80.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - die meisten Freiwillige -, 500 Dienststellen, 2500 Fahrzeuge und eine bundesweite Infrastruktur: Das sind jetzt Ressourcen, die benötigt werden. Das Rote Kreuz testet Menschen, die infiziert sein könnten; es hilft mit seiner "Stopp Corona"-App auf freiwilliger Basis, Infektionsketten zu durchbrechen; es nimmt Testungen für repräsentative Studien vor, die als Entscheidungsgrundlage für Maßnahmen zur Eindämmung des Virus (und hoffentlich zur Lockerung der Maßnahmen) dienen; es berät Entscheidungsträger in der Krise, denn damit hat es jahrzehntelange Erfahrung; daneben hält es seine bekannten Dienstleistungen aufrecht.

Das Rote Kreuz ist eine private Einrichtung, die eng definierten Grundsätzen und Werten gehorcht, und zugleich ein Dienst im öffentlichen Interesse. Im Normalbetrieb nimmt man es als Selbstverständlichkeit wahr. Gerade zeigt sich, was in ihm steckt, wenn es über den Normalbetrieb hinauswächst.