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Es wächst nicht zusammen, was nicht zusammengehört

Von Oliver Kühschelm

Gastkommentare

Nationaler Schulterschluss und Perspektiven einer besseren Zukunft nach Corona.


Zwei miteinander verbundene Irrtümer geistern angesichts der Coronavirus-Pandemie durch die mediale und politische Öffentlichkeit: Da ist zum einen die Erwartung, dass ein nationaler Schulterschluss, der in Zeiten der Bedrohung eingegangen wird, eine substanzielle Veränderung der Gesellschaft zum Besseren nach sich ziehen wird. Man setzt auf die Kraft der Besinnung: Wenn einmal die unmittelbare Gefahr überwunden ist, wird man den Patrioten aller Klassen die Anerkennung nicht verwehren können. Schließlich waren sie doch bereit, für das Gemeinwohl Opfer zu erbringen. Gemeinschaft bringt Gleichheit oder doch zumindest die Milderung von Ungleichheit, lautet der Kurzschluss. In Kriegen bezog man das auf die männlichen Soldaten, im "Krieg" gegen das Coronavirus soll es den (zu einem großen Teil) weiblichen Pflegekräften und Supermarktangestellten eine Besserstellung bringen.

Da ist zum zweiten die Erwartung, dass Erschütterungen katastrophalen Ausmaßes eine Nivellierung sozialer Ungleichheit nach sich zögen. Der Althistoriker Walter Scheidel hat diese vermeintlich naturhafte Dynamik in seinem viel beachteten Werk "Nach dem Krieg sind alle gleich" durch die Menschheitsgeschichte verfolgt. Er twittert derzeit nach dem "Habe ich es nicht gesagt"-Muster und hat mit seinen eingängigen Thesen auch Branko Milanovic, einen der weltweit namhaftesten Ungleichheitsforscher, beeindruckt. Dieser stellte vor kurzem prompt - und irreführend - fest: "Vor dem Coronavirus sind alle gleich."

Katastrophe als Gleichmacher, Gerechtigkeit im Nationalstaat?

In Gesellschaften mit eklatanter und selbstbewusster Ungleichheit wie den USA zeigt sich die Unrichtigkeit dieser Behauptung am deutlichsten: Arme sind dank fehlender Krankenversicherung in ihrem Überleben und ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht; Reiche flüchten hingegen - wie schon seit Jahrtausenden - auf ihre Landsitze und lassen sich für alle Fälle Bunker unter der Erde bauen. Daran ändert auch nichts, dass Angehörige der Eliten unter den Ersten waren, die sich am Coronavirus angesteckt haben.

Die Katastrophe als Gleichmacher und der Nationalstaat als Katalysator einer gerechteren Gesellschaft - worauf beruht die scheinbare Plausibilität dieser beiden Annahmen und ihrer Verbindung? Dafür lassen sich drei Gründe anführen:

Erstens bringen katastrophenhafte Erschütterungen Instabilität und erzeugen Unzufriedenheit, die sich politisch mobilisieren lässt. Das aber ist die wesentliche und dabei nicht naturhafte Bedingung. Die bloße Möglichkeit der Mobilisierung kann zwar ein Moment des Erschreckens hervorbringen, in dem sich die Eliten einsichtig geben. Fehlt die Mobilisierung gegen die herrschende Ordnung, verfliegt die Einsicht aber so schnell wie die akute Bedrohung. Man erinnere sich nur an das Verhalten der Bankmanager in und nach der Weltfinanzkrise 2008.

Zweitens charakterisiert sich die Moderne durch eine Dynamik aus Gesellschaft und Gemeinschaft. Einerseits werden überkommene wirtschaftliche Bindungen und soziale Beziehungen zurückgedrängt. Das fordert andererseits immer wieder die neuerliche Herstellung von sozialer Nähe - und sei es als bloße Fantasie. Die Nation ist eine solche Vorstellung von Gemeinschaft, die wirkmächtigste seit dem 19. Jahrhundert. Historisch hat die Nation jedoch vor allem als Bremse für radikale soziale Veränderung gedient, nicht als ihr Motor: Wenn "wir" ohnehin schon eine Gemeinschaft sind, wer braucht dann noch eine substanzielle, langfristige und daher mühevolle Transformation der Gesellschaft? Ein nationales "Wir" hat außerdem einen wesentlichen Defekt: Es kümmert sich wenig um jene, die nicht dazugehören. So besitzen in Österreich immerhin rund 1,5 Millionen hier lebende Menschen nicht die Staatsbürgerschaft, und zu "echten" Österreichern würde sie diese in den Augen vieler Eingesessener ohnehin nicht machen. Die rund 160.000 Einpendler aus dem Ausland (Stand 2016) dürfen sich auf Baustellen und in der Altenpflege verdingen - der Wohlfahrtsnationalstaat will für sie aber möglichst nicht zuständig sein.

Drittens ist eine zeithistorische Erfahrung im Spiel, wenn man erwartet, dass aus der Asche der Pandemie ein Phönix nationalen Gemeinschaftswillens entsteigen wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten die hochentwickelten Staaten einen massiven Ausbau von Sozialleistungen im Rahmen von Wohlfahrtsnationalstaaten. Insbesondere in den Staaten der westlichen Alliierten ließen sich die Jahre des Nachkriegsbooms als Bestätigung der sozialen Kraft der Nation und als Belohnung für die Jahre der gemeinsam durchgestandenen Gefahr deuten. Passenderweise hofft man derzeit in der britischen Labour Party, dass sich der neue Vorsitzende Keir Starmer als Wiedergeburt von Clement Attlee erweisen möge. Nachdem dieser seit 1940 mit Winston Churchill in dessen Kriegskabinett kooperiert hatte, löste er ihn 1945 als Premierminister ab und leitete eine nie gekannte Expansion des Wohlfahrtsstaats ein.

Missverständnis der Geschichte des kurzen 20. Jahrhunderts

In den Erzählungen der westlichen Gesellschaften wird allerdings ein wesentliches Faktum unterschlagen: die russische Revolution und die Existenz der Sowjetunion. Die Revolutionsangst nach dem Ersten Weltkrieg und die Angst vor dem Systemgegner nach dem Zweiten Weltkrieg schufen beide Male Fenster für Sozialgesetzgebung und Kompromissbereitschaft der wirtschaftlichen Eliten. Diese spezifische Art der äußeren Bedrohung ergänzte und ersetzte die politische Mobilisierung im Inneren.

Wir leben aber seit geraumer Zeit in einer Welt, die keine Alternativen mehr kennt - und seien es nur solche wie die Sowjetunion, über deren menschliche Kosten man sich täuschen musste, um sie attraktiv zu finden. Somit fehlt ein entscheidender Anreiz, der einen nationalen Schulterschluss zu irgendetwas anderem machen könnte als zur Vorstufe einer Rückkehr zur "Normalität". Und diese stellt die wahre Bedrohung dar, weil sie uns eine ökologische Katastrophe einzuhandeln verspricht, die ebenso eine soziale und wirtschaftliche sein wird.