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Immunitätszertifikate als robuste Exit-Strategie

Von David Stadelmann

Gastkommentare

Für Covid-19-Genesene sind Freiheitsbeschränkungen nicht nur unverhältnismäßig, sondern ungeeignet und nicht erforderlich.


Immer mehr Regierungen und private Anbieter wollen Corona-Immunitätszertifikate (Immunitätsausweise) für von der Krankheit Genesene einführen. In Deutschland gibt es bereits einen konkreten Gesetzesvorschlag für derartige Zertifikate. Schon am 25. März berichtete die "Wiener Zeitung" mit Bezug auf einen gemeinsamen Forschungsbeitrag von Reiner Eichenberger, Rainer Hegselmann und dem Autor dieses Gastbeitrags über die Idee von Immunitätszertifikaten.

Die meisten Kritiker von Immunitätszertifikaten bringen vor, Immunität wäre nicht absolut sicher. Dabei sind Zertifikate besonders wichtig, wenn Unsicherheit hinsichtlich Stärke und Dauer der Immunität sowie der Testqualität besteht. Mit Bezug auf Corona herrscht überall große, nur langsam abnehmende wissenschaftliche Unsicherheit. Niemand weiß heute genau, wie stark die Immunität von Genesenen ist. Aber absolute Sicherheit gibt es im Leben nie. Klar ist hingegen: Wer die Krankheit abgewehrt hat, hat gewisse Abwehrkräfte.

Aufgrund der Unsicherheitenist eine Zertifizierung zentral

Die Erfahrungen mit ähnlichen Virenerkrankungen zeigen, dass und wie Immunität aufgebaut wird. Bei Grippe ist sie klein, weil die Viren schnell mutieren. Entsprechend schützt eine Grippeimpfung je nach Alter und Gesundheitszustand nicht 100 Prozent, sondern rund 40 bis 75 Prozent der Geimpften. Bei Covid-19 dürfte der Impfschutz höher liegen, falls das Virus weniger schnell mutiert. Aber er wird nicht absolut sicher sein, sondern nur die Infektionswahrscheinlichkeiten senken. Folglich können Covid-19-Genesene heute schon als ähnlich immun wie Geimpfte angesehen werden.

Genau aufgrund der Unsicherheiten ist eine Zertifizierung von Immunität zentral. Immunitätszertifikate sind eine Art Qualitäts- oder Sicherheitssiegel. So bedeutet keines der vielen Lebensmittel-, Universitäts- und Berufszertifikate, dass die zertifizierten Lebensmittel, Universitätsabgängerinnen und Handwerksmeisterinnen garantiert und ewig fähig sind. Es ist nur viel wahrscheinlicher, dass sie wenigstens für eine gewisse Zeit besser als irgendwelche nicht-zertifizierten Angebote sind. Ähnlich erhalten Immunitätszertifikate ihren Stellenwert unter anderem aufgrund der Unsicherheit und der zeitlichen Begrenztheit ihrer Aussagekraft. Sie sind auch dann nützlich, wenn die durchgeführten Tests nicht völlig sicher sind und Immunität nicht dauerhaft währt.

In jedem Fall gilt: Die Strategien der Regierungen weltweit setzen auf eine gewisse Tragfähigkeit und Haltbarkeit der Immunität. Wer auf eine Impfung setzt, setzt auf Immunität. Wer auf ein Abflachen der Kurve setzt, setzt auch auf Immunität. Und wer - wie Schweden - auf Herdenimmunität setzt, tut dies sowieso. Unabhängig vom Seuchenentwicklungsszenario sind Immunitätszertifikate also nützlich.

Ungleichheit und Chancengleichheit

Immunität hat einen Wert, und dieser Wert kommt jedem einzelnen, freigemachten Immunen zugute. Um ihre Leistungskraft für sich selbst und für andere voll zu nutzen, müssen Immune sich wieder völlig frei bewegen können. Manche Kritiker stehen Immunitätszertifikaten mit Blick auf eine steigende Ungleichheit skeptisch gegenüber. Doch Angst vor Ungleichheit kein relevantes Argument. Der Wert der individuellen Immunität nimmt ab, je größer die Zahl der Immunen ist. Wer eine potenzielle anfängliche Ungleichheit trotz Freimachung der Immunen ablehnt, hätte die Möglichkeit, eine Gebühr für die Ausstellung von Immunitätszertifikaten zu verlangen und die Einnahmen umzuverteilen. Davon ist jedoch eher abzuraten. Steckt nicht vielleicht Neid hinter der Ablehnung von Ungleichheit aufgrund von Immunität? So oder so gilt, dass Immunität ein Aspekt in der Lotterie des Lebens ist. Sie ist aber nur ein vergängliches Glück, bis es viele Immune oder eine Impfung gibt.

Auch aus rechtlicher Sicht ist der Gleichheitsgrundsatz nicht verletzt. Gleiches ist zwar gleich, aber Ungleiches kann sehr wohl unterschiedlich behandelt werden. Darüber hinaus ist ein zentraler rechtlicher Grundsatz jener der Verhältnismäßigkeit. Bereits die jetzigen Freiheitsbeschränkungen könnten angesichts des sehr unterschiedlichen Risikos der unterschiedlichen Risikogruppen unverhältnismäßig sein. Für Immune dürfte es über jeden vernünftigen Zweifel erhaben sein, dass für sie Freiheitsbeschränkungen nicht nur unverhältnismäßig, sondern ungeeignet und nicht erforderlich sind.

Große und relevante Probleme mit Herz anzuschauen, heißt, sie rational anzuschauen. Die Entscheidungsträger in der Politik haben die Pflicht, die Probleme rational zu analysieren, gerade weil dies manche Bürger in der Notsituation nicht selbst leisten wollen oder können. Der Vorschlag für Immunitätszertifikate ist ökonomisch geprägt, will also möglichst alle Vor- und Nachteile umfassend berücksichtigen. Es geht also darum, den Menschen mit all seinen Facetten in den Mittelpunkt zu stellen und die Perspektive des Einzelnen einzunehmen, der Grundrechtsträger im Rechtsstaat ist. Nicht der Gebrauch der verfassungsrechtlich garantierten Freiheit ist rechtfertigungsbedürftig, sondern ihre Einschränkung ist es.