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Krise als Motor für die Neuordnung der EU

Von Othmar Karas

Gastkommentare
Othmar Karas ist Abgeordneter zum Europäischen Parlament (ÖVP) und einer der Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments.
© Foto-AG Gymnasium Melle

Europatag zum 70. Jubiläum der Schuman-Erklärung.


Vor 70 Jahren hat der damalige französische Außenminister Robert Schuman die heutige Europäische Union begründet. Dieser 9. Mai 1950 war unser erster Europatag. Die derzeit größten Herausforderungen seither können wir bewältigen, davon bin ich überzeugt. Denn wir haben in der Vergangenheit Krisen immer wieder genutzt, um uns weiterzuentwickeln. Dafür müssen wir Schuman nur für die heutige Zeit interpretieren und einen klaren, zukunftsorientierten Kurs halten. Dann kann die Corona-Krise - und nicht nur sie - zum Motor für eine notwendige Neuordnung der Europäischen Union werden.

Ein Leitsatz von Schuman war: "Europa lässt sich nicht mit einem Schlag herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die eine Solidarität der Tat schaffen." Und aktuelle Ereignisse und Herausforderungen gibt es genug. Das reicht von der beispiellosen Corona-Krise über den Klimawandel und das Flüchtlingselend bis zu den weltweiten Ungleichheiten. Jeder Einzelne ist aufgerufen, jetzt Taten der Solidarität zu schaffen.

Vieles haben wir seit der Erklärung Schumans erreicht: Wir haben die EU demokratischer gemacht, indem wir das Europäische Parlament zum gleichberechtigten Gesetzgeber mit der Länderkammer gemacht haben, dem Rat der Mitgliedstaaten. Mit der Erweiterung haben wir Europa wiedervereinigt, die EU ist von sechs auf 27 Mitgliedstaaten angewachsen. Der europäische Binnenmarkt wurde zum größten Wirtschaftsraum der Welt. Der Euro wurde rasch zur global zweitstärksten Währung - weit stärker, als es der Schilling je war. Mit dem Green Deal haben wir eine gemeinsame Antwort auf die Herausforderung des Klimawandels beschlossen.

Aber gerade in Zeiten der Krise wird klar, dass wir uns weiterentwickeln müssen, um gemeinsam mit den Menschen in Europa eine sichere, demokratische und friedliche Zukunft zu gestalten. Denn die EU wurde und wird vielfach herausgefordert: Durch die Finanz- und Staatsschuldenkrise 2008, aus der wir immer noch nicht alle Lehren gezogen haben. Durch die Flüchtlingskrise 2015, nach der wir bis jetzt kläglich dabei versagt haben, jenen Menschen eine europäische Antwort zu geben, die sich auf der Flucht nach Europa befinden. Durch den Klimawandel, der keine Staatsgrenzen kennt. Und natürlich durch die aktuelle Corona-Krise.

Diese vier Herausforderungen müssen der Motor für die Neuordnung der EU werden. Unser Kompass dabei sind der Green Deal, ein "White Deal" für den Gesundheits- und Sozialbereich, die Digitalisierungs- und Standortstrategie, ein Binnenmarkt der sozialen Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit sowie die vier Freiheiten und die Grundrechte der EU.

Was bedeutet das für die aktuelle Interpretation von Schuman? Er hatte Kohle und Stahl vergemeinschaftet, um auf Dauer Frieden in Europa zu schaffen. Heute brauchen wir Respekt vor der Würde jedes Menschen und sozialen Zusammenhalt. Das sind unsere wichtigsten - immateriellen - Rohstoffe für eine friedliche und erfolgreiche gemeinsame Zukunft. Diese Rohstoffe sind nicht in Tonnen messbar, aber höchst sensibel, begehrt und der Maßstab der europäischen Zivilisation.