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Ein schwerer Haken für die EZB

Von Kurt Bayer

Gastkommentare

Die Bedeutung des jüngsten deutschen Gerichtsurteils zum Anleihen-Aufkaufprogramm.


Am 4. Mai hat das deutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem aufsehenerregenden Urteil das Anleihen-Aufkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) von 2015 für teilweise verfassungswidrig erklärt. Es hat der EZB den Auftrag gegeben(!), binnen drei Monaten eine Begründung für die Abwägung von Pro und Kontra zu liefern. Gleichzeitig hat es die deutsche Bundesregierung und die deutsche Notenbank gerügt, diese Abwägung nicht stärker einzufordern.

Folgendes ist also passiert:

1. Ein nationales Gericht erklärt de facto den Primat des Europäischen Gerichtshofes (dieser hatte in dieser Angelegenheit bereits einmal positiv entschieden) für obsolet, stellt sich also über diesen. Man stelle sich vor, alle 19 Euroländer täten dies und beeinspruchten, je nach nationaler Rechtslage und Rechtsauslegung, europäische Entscheidungen und erklärten sie für null und nichtig: Das wäre das Ende der EU und jedenfalls der Eurozone. Allerdings beansprucht nur Deutschland - aufgrund des in seinem Grundgesetz unverrückbaren (also auch nicht durch Zweidrittelmehrheit oder via Volksabstimmung aushebelbaren) Demokratieprinzips dieses Recht bisher für sich.

2. Die deutschen Mitglieder im EZB-Rat (sowohl das Direktoriumsmitglied als auch der Notenbankgouverneur) werden damit in einen unauflösbaren Loyalitätskonflikt geworfen: Sie sind sowohl den EU-Zielen als auch der deutschen Verfassungsrechtsprechung verpflichtet. Wie sollen sie sich im konkreten Fall verhalten? Sie können schließlich im Konfliktfall nicht beiden Herren gleichzeitig dienen.

3. Laut EU-Vertrag ist die EZB, so wie alle nationalen Notenbanken, "unabhängig". Das bedeutet, dass andere Institutionen nicht in ihre Gebarung eingreifen dürfen und ihre eigenen Gremien alleine den im Vertrag festgelegten Zielen verantwortlich sind. Es wurde schon mehrmals kritisiert, dass es für diese wichtige wirtschaftspolitische Institution keine demokratische Legitimation gäbe. Dass aber ein nationales Gericht sie quasi maßregelt, geht gar nicht.

Keine große realpolitische Rolle

4. Das Gerichtsurteil aus Karlsruhe betrifft "nur" das "alte" Aufkaufprogramm, das im Zuge der Finanzkrise ab 2008 aufgelegt, 2018 sistiert, aber 2019 (mit 20 Milliarden Euro im Monat) wieder aufgenommen wurde. Es betrifft nicht das viel größere derzeitige Aufkaufprogramm PEPP von 750 Milliarden Euro im Zuge der Corona-Hilfe. Allerdings werden die damaligen Kläger - der Gründer der AfD, Bernd Lucke, sowie andere Gegner von EU und Eurozone - ermutigt, auch gegen das derzeitige Programm zu klagen, offenbar mit einigen Erfolgsaussichten.

5. Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen: Hier geht es um ein Programm für die gesamte Eurozone, ein nationales Gericht aber klagt letztendlich, dass die Nachteile für seine eigenen Staatsbürger nicht genügend gegen die Vorteile für die gesamte Eurozone abgewogen wurden - ein provinzieller Kantönligeist, der die "raison d’etre" der gemeinsamen Währung für 19 Mitgliedsländer in Frage stellt. Das Gericht hat nämlich nicht die Abwägung der Nachteile durch niedrige Zinsen gegenüber den Vorteilen für das Überleben der gesamten Eurozone moniert, sondern nur die Nachteile für die Deutschen - für die es ja alleinig zuständig ist - eingefordert.

6. Die eigentlich viel öfter diskutierte und brisantere Frage, ob denn das Anleihen-Aufkaufprogramm nicht das Verbot des "monetary financing", also der Finanzierung der Staatsschulden durch Notenbanken verletze, hat das Gericht negativ beantwortet, also die grundsätzliche Zulässigkeit des Aufkaufprogramms befürwortet.

7. Realpolitisch wird dieses Urteil keine große Rolle spielen, auch wenn der Kurs des Euro gegenüber dem US-Dollar nach dem Urteil um einige Basispunkte nach unten gegangen ist. Die allmächtigen Finanzmärkte sind beunruhigt darüber, ob das neue Corona-Aufkaufprogramm der EZB wirklich halten wird und damit ihren Interessen entgegenkommt. Für die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik der EZB ist dies aber ein schwerer Haken, vor allem nachdem ihre Präsidentin Christine Lagarde bereits einmal beruhigend und entschuldigend eingreifen musste, als aufgrund ihrer Aussagen Zweifel auftauchten, ob die EZB wirklich alles Mögliche tun würde ("whatever it takes"), um die Zukunft der Eurozone zu garantieren.

Macht die EZB weiter wie bisher?

8. Folgendes kann nun passieren: Entweder liefert die EZB dem Karlsruher Gericht die gewünschte Abwägung, die man natürlich in der Schublade hat, da ja im Zuge der Aufkaufprogramme im EZB-Rat durchgehend und durchaus kontrovers darüber diskutiert wurde. Damit würde aber die EZB quasi die Oberhoheit - oder zumindest die Gleichstellung - des deutschen Bundesverfassungsgerichts anerkennen. Karlsruhe würde in diesem Fall mit stolzer Brust sein Ego erfüllt sehen und alles für rechtens erklären. Oder die EZB schert sich einen Teufel um Karlsruhe und belässt die deutschen Ratsmitglieder in ihrem Loyalitätsdilemma beziehungsweise stellt sich auf den Standpunkt, dass Urteile des EUGH natürlich jene von nationalen Gerichten dominierten. Wie dann Bundesbank und Regierung in Berlin reagieren würden, die sich ja per EU-Vertrag verpflichtet haben, europäische Politik zu implementieren, bleibt offen.

9. In der Corona-Krisensituation, wo sowohl die EU-Corona-Hilfen als auch die Verhandlungen über den mittelfristigen Finanzrahmen genügend Kontroversen bieten, braucht die Europäische Union diesen Konflikt wie einen Kropf. Von vielen wird dieses Urteil zu Recht als weitere Zentrifugalkraft der Mitgliedstaaten interpretiert werden, die ebenso wie bei der Kontroverse um die Flüchtlingsaufnahmen und um die Euro- oder Corona-Bonds klare Bruchlinien zwischen den Mitgliedsländern aufzeigen, denen die je eigene Souveränität und Position viel wichtiger ist als das Schicksal der Eurozone und der EU. Die in den Umfragen sichtbar werdende Abkehr des Gründungsmitglieds Italien von der EU zeigt dies an, es gibt den Populisten à la Matteo Salvini und anderen weitere Nahrung. Ob dieses Urteil dem Standing Deutschlands als treibende Integrationskraft der EU hilft, bleibt offen. Von offizieller Seite hat sich weder Österreichs Regierung noch die Notenbank oder das Parlament zu dieser Situation geäußert.