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Mehr Privat, weniger Staat - oder doch besser umgekehrt?

Von Thomas Nowotny

Gastkommentare

Ein starker, gut finanzierter und wirksam handelnder Staat, gesellschaftliche Wohlfahrt, wirtschaftliches Gedeihen und wirtschaftliche Dynamik sind keine Gegensätze.


Die Regierung hat angekündigt, alles zu tun, was notwendig ist ("whatever it takes"), um in der Corona-Krise die Wirtschaft vor einem völligen Absturz zu bewahren; und um es ihr zu ermöglichen, nach dem Ende der Krise so rasch wie möglich wieder durchzustarten. Es ist aber abzusehen, dass auch in der Wirtschaft das "Danach" trotzdem nicht dem "Vorher" gleichen wird. Die Strukturen der Wirtschaft werden sich durch die Krise auf Dauer verändert haben. Das gilt auch für die Wirtschaftspolitik des Staates. Auch sie wird im Lichte der Erfahrungen und Erfordernissen der Corona-Krise überprüft und wenn notwendig neu konzipiert werden müssen.

Vor allem wird man sich fragen müssen, ob es, eben im Lichte der Erfahrungen in der Krise, nicht nachgerade schädlich wäre, am ursprünglichen Ziel der Regierung festzuhalten und "die Steuer- und Abgabenquote (also den Anteil von Steuern und Abgaben am Nationalprodukt) in Richtung 40 Prozent" abzusenken. Die Regierung wollte dadurch die Bürger "entlasten, damit sie mehr zum Leben haben". Sie wollte sie durch dieses Zurückdrängen des Staates glücklicher machen und zugleich auch "die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Wirtschaft stärken". Dahinter steckt die Ansicht, eine großzügige finanzielle Ausstattung des Staates, also eine hohe Staatsquote, verringere seine wirtschaftliche Entfaltung und Konkurrenzfähigkeit; und die Menschen würden sich dort durch den Staat belastet sehen und unglücklich fühlen.

Diese Ansicht oder Behauptung lässt sich überprüfen. Blicken wir dazu auf Österreich und einige andere Staaten, mit denen ein politisch aussagekräftiger Vergleich möglich ist (siehe Grafik). Von den fünf ausgewählten Staaten, in denen die Abgabequote im Vergleich zu Österreich höher ist, sind drei - Dänemark, Schweden und Frankreich - wirtschaftlich konkurrenzfähiger. Belgien mit seiner ebenfalls sehr hohen Abgabequote unterscheidet sich im Index der Konkurrenzfähigkeit nur unmaßgeblich von Österreich. Andererseits ist Finnland mit einer im Wesentlichen mit Österreich vergleichbaren Abgabequote international weit konkurrenzfähiger. Seine im Vergleich zu Österreich etwas niedrigere Abgabequote macht Deutschland kaum konkurrenzstärker als das Hochsteuerland Dänemark.

Spitzenplätze im Index der Wettbewerbsfähigkeit belegen allerdings Großbritannien und die USA - beides Staaten mit einer sehr niedrigen Abgabenquote. Aber das ist auf Kosten der Zukunft erkauft. Nicht nur die Budgets des Staates sind dort im Defizit (in den USA mit nicht weniger als 4,6 Prozent des Nationalprodukts). Defizitär ist in beiden Staaten auch die Leistungsbilanz. Die USA und Großbritannien konsumieren also mehr, als sie erzeugen. Dadurch, dass sie sich international verschulden, leben sie auf Pump und auf Kosten anderer. In den Hochsteuer- und Hochabgabeländern Schweden und Dänemark sind die Staatsbudgets leicht im Überschuss, also im Wesentlichen ausgeglichen. Die Leistungsbilanz ist in beiden Ländern sehr positiv (in Dänemark mit erstaunlichen 7,8 Prozent des Nationalprodukts).

Gesellschaftliche Probleme in Niedrigsteuerländer

Natürlich sind Budget- und Leistungsbilanzüberschüsse kein Selbstzweck. Sie können durch ihre deflationäre, die wirtschaftliche Gesamtnachfrage hemmende Wirkung sogar schädlich sein. Aber sie verweisen jedenfalls darauf, dass eine höhere Steuer- und Abgabelast der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit nicht abträglich ist. Drängen Menschen darauf, sich der Bürde hoher Steuern und Abgaben zu entledigen? Und fühlen sie sich glücklicher in Staaten, in denen diese Last geringer ist? Finnland, ebenso mit Steuern und Abgaben belastet wie Österreich, gilt als das glücklichste Land der Welt; gefolgt vom Hochsteuerland Dänemark auf Platz zwei. Österreich liegt an zehnter Stelle, also vor Großbritannien (Rang 15) und den USA (Platz 19). In beiden letzteren Niedrigsteuerländern haben sich gesellschaftlich Probleme in einem Maße angehäuft, dass sie fast unlösbar geworden sind. Der Brexit und US-Präsident Donald Trump sind dafür Symptome.

Natürlich darf man daraus nicht schließen, dass eine hohe Abgabenquote automatisch die Wettbewerbsfähigkeit und das allgemeine Wohlbefinden steigert. Italien hat eine Österreich vergleichbare, also relativ hohe Abgabenquote, ist aber unter allen angeführten Staaten jener mit der geringsten Wettbewerbsfähigkeit; und ebenfalls jener Staat mit der schlechtesten Kennziffer im Glücksindex. Ein Staat muss also in der Lage sein, die einer hohen Abgabequote entsprechenden, die Wohlfahrt und die Wirtschaft fördernden Leistungen auch tatsächlich zu erbringen. Dem italienischen Staat gelingt das offensichtlich nicht besonders gut. Den Österreich vergleichbaren mittel- und nordeuropäischen Ländern gelingt das sichtlich besser. Offenbar stützt und fördert dort ein starker, gut finanzierter Staat hohe Wohlfahrt und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit.

Starke gegenseitige Abhängigkeit

In modernen, wohlhabenden Staaten ist die Arbeitsteilung intensiv. Man ist dadurch stark voneinander abhängig. Es gibt daher vieles, das zum Wohle der gesamten Gemeinschaft erledigt werden muss. Die Erfahrungen der vergangenen 20 Jahre zeigen, dass das im Allgemeinen besser durch gemeinschaftliche, politisch gesteuerte Einrichtungen erfolgt und nicht durch von Gewinnstreben gesteuerte private Unternehmen: verlässliche Pensionsvorsorge; umfassender Schutz der Gesundheit, Spitäler und ausreichende Krankenversicherung; innere und äußere Sicherheit: Rechtsschutz; Straßen und andere wesentliche Infrastruktur; Schulen und Universitäten; Wasserversorgung und Entsorgung; Förderung von Forschung, Wissenschaft und Kunst; Schutz der Umwelt und der Konsumenten - all diese in ihrem Umfang und ihrer Komplexität wachsenden Aufgaben werden besser von öffentlichen Einrichtungen wahrgenommen. All diese öffentlich dargebrachten Leistungen tragen wohl weitaus mehr zur persönlichen und allgemeinen Wohlfahrt bei als ein durch Steuersenkungen leicht gesteigertes privates Einkommen, das es einem ermöglicht, das größere Auto zu kaufen oder die teuere Fernreise zu buchen.

Das war nicht die ursprüngliche Meinung von Bundeskanzler und Finanzminister. Zumindest bis vor Einsetzen der Corona-Krise war in ihren Augen der Staat offenbar ein Wohlfahrtsvernichter und Feind der Wirtschaft, der deshalb kleingehalten und zurückgestutzt werden sollte. Eine solche neo-anarchische Sicht hat lange Zeit in den USA und dann später auch in einigen Staaten Europas die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik bestimmt. Heute und im Lichte der inzwischen - nicht zuletzt in der Corona-Krise - gemachten Erfahrungen wirkt diese Ideologie zunehmend wirklichkeitsfremd.

Man erkennt: Ein starker, gut finanzierte und wirksam handelnder Staat, gesellschaftliche Wohlfahrt, wirtschaftliches Gedeihen und wirtschaftliche Dynamik sind keine Gegensätze. Wahr ist: Sie stützen und fördern einander gegenseitig.