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Der Pawlowsche Krisenreflex

Von Alexander Eiber

Gastkommentare
Alexander Eiber studierte Politikwissenschaft, Geschichte, Mündliche Kommunikation und Grundlagen der Philosophie in Regensburg und München. Er arbeitet bei der Christlich-Sozialen Union und war Mitglied im CSU-Parteivorstand.
© Sebastian Widmann

Man sollte in der Politik nicht auf das Verhalten des Hundes schauen, sondern auf die Futtertröge.


Der Pawlowsche Reflex beschreibt eine klassische Konditionierung. Iwan Pawlow geht von einem Hund aus, dem durch eine unbedingte Reaktion reflexartig das Wasser im Mund zusammenläuft, wenn er Futter sieht. Derartige natürliche Reflexe gibt es auch in der Politik - vor allem in Krisenzeiten. Sie können hilfreich und nützlich sein oder aber auch fehl am Platz und kontraproduktiv - Politiker sind schließlich keine Hunde.

Weil wir in der Corona-Krise seit Monaten im (nun etwas gelockerten) Ausnahmezustand leben, ist der politische Reflex unser temporärer Normalzustand. Das ist soweit ungewohnt. Wir sind von langatmigen Wahlkampfdemokratien geprägt, in denen mittelfristige Weichenstellungen für das Land zum Preis der Stimmabgabe delegiert werden können. Jetzt müssen wir uns ad hoc und ohne betreute Vorlaufzeit eine Übersicht darüber verschaffen, welche Maßnahmen richtig oder falsch, verhältnismäßig oder unverhältnismäßig sind. Das kann man am besten, indem man nicht wie Pawlow zuerst auf den Hund schaut, sondern hinterfragt, was es mit den Futtertrögen auf sich hat.

Eine Gesundheitskrise, in der es um das elementarste Gut geht

Die Corona-Krise ist eine Gesundheitskrise. In einer Gesundheitskrise geht es um das elementarste Gut, das Menschen besitzen: ihr Leben. Über das Leben von Menschen haben nicht die Politik und schon gar nicht ihre Repräsentanten zu entscheiden, sondern sie haben es zu schützen und jegliche Bedrohung abzuwenden. Das ist unbestreitbarer Kanon unserer Grundwerte und das erste Grundrecht eines jeden Bürgers. Bedroht eine unkontrollierbare Pandemie das Leben der Menschen, dann folgt daraus ein staatlicher und politischer Ausnahmezustand.

Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote, Reisebeschränkungen, Grenzkontrollen und weitgehende Verhaltensvorschriften sind in Summe kein Programm, mit dem eine Partei sich um die Gunst der Wähler bewirbt, es sind natürliche Reflexe zum Schutz der Menschen. Keine der christlichen Kanzlerparteien, sei es die CDU/CSU in Deutschland oder die ÖVP in Österreich, kann ideologisches Kleingeld damit wechseln; keine Weltanschauung wird befriedigt; keiner machtpolitischen Fantasie die Bahn gebrochen - und das aus einem einfachen Grund: Alle Maßnahme zur Bekämpfung von Corona haben keinen nachgelagerten Nutzen, außer den unmittelbaren, unsere Gesundheit zu schützen.

Das ist die eine Seite, wie man die Sache sehen kann - dafür müsste man allerdings folgende politische Reflexe als natürlich anerkennen: dass es nicht in allen unseren Lebensbereichen um Politisierung geht; dass Solidarität in einem Land ein Wert an sich sein kann und nicht von der politischen Couleur abhängig ist; dass sich das politisch Notwendige oft an der (lebensbedrohenden) Wirklichkeit und Realität der Menschen bemisst statt an angelesenen Dogmen und Weltanschauungen; und schließlich, dass in einer freiheitlichen Demokratie das Wohl des Individuums vor der Gesellschaftheorie kommt.

Zwischen zwei Pawlowschen Hunden unterscheiden

Politik hat es aber so an sich, dass nicht alle wie der Pawlowsche Hund gleich reagieren, sondern gegensätzliche Reflexe ausbilden. So ist es auch im Ausnahmenzustand, der Corona regiert. Reflexartig kann man am nationalen Schulterschluss in Deutschland und Österreich auch einen "bräsigen Patriotismuskitsch" beklagen. Man kann - wie der deutsche Grünen-Chef Robert Habeck - der Gastronomie in Zeiten, in denen sie wirtschaftlich mit am härtesten getroffen ist, realitätsallergisch zurufen: Sollen sie doch die Chance nutzen und ihre Ölheizungen durch ökologischere Technologien ersetzen. Oder man kann natürlich ausgerechnet jetzt die Krise als Hebamme nutzen, um durch Corona die alte sozialistische Totgeburt einer europäischen Transfer- und Schuldenunion durch Eurobonds wieder zum Leben zu erwecken.

Diese Vorschläge gehören ebenso wie die anderen Herangehensweisen zur Verhandlungsmasse in einer Demokratie - man sollte deshalb darüber diskutieren und sich ein Urteil bilden. Will man sich als interessierter Bürger in der entscheidungsreichen Zeit von Corona einen Überblick verschaffen und die verschiedenen politischen Zugänge einordnen, schafft eine einfache Unterscheidung schnell Klarheit. Man muss lediglich zwischen zwei Pawlowschen Hunden unterscheiden: dem einen, der reflexartig nicht vom ideologischen Futtertrog lassen kann, und dem anderen, der in diesen Zeiten lieber nüchtern bleibt. Man ist eben, was man isst, oder irgendwie so ähnlich.