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Testing, Tracing, Treating

Von August Pradetto

Gastkommentare

Ein asiatischer Tigerstaat nicht nur in ökonomischer Hinsicht: Südkorea in der Corona-Krise.


Hongkong, Singapur, Taiwan, Südkorea, Vietnam, Neuseeland und China waren bei der Pandemiebekämpfung erheblich erfolgreicher als viele europäische Länder, obwohl Letztere später betroffen waren. Warum das so war, wird am Beispiel Südkoreas deutlich. Mit seinen 51 Millionen Einwohnern war Südkorea als einer der ersten Nachbarn Chinas vom Coronavirus betroffen. Am 31. Dezember 2019 informierte China die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über das neue Virus, am 20. Jänner folgte die Meldung, dass es sich von Mensch zu Mensch übertrug - am selben Tag wurde der erste Fall in Südkorea bekannt.

Die Regierung in Seoul reagierte umgehend mit einer "Response-Strategie", die im Wesentlichen aus drei Komponenten bestand: "Testing, Tracing, Treating" (umfassende Tests, Kontaktverfolgung, ambulante und stationäre Behandlung sowie Isolierung). Bis Mitte Februar war die Lage unter Kontrolle, trotz vieler Tests gab es bis dahin nur 31 bestätigte Fälle und keine Toten. Am 19. Februar wurde eine Angehörige einer christlichen Sekte positiv getestet, sie hatte trotz Symptomen einen Gottesdienst besucht.

Danach breitete sich das Virus bis Mitte März rapide aus (etwa 8.000 Fälle), bis zur ersten Aprilwoche noch immer heftig (Anstieg auf mehr als 10.000 Fälle), dann flachte die Kurve ab. In Italien (60 Millionen Einwohner), wo das Virus nur acht Tage nach Südkorea erstmals aufgetreten war, gab es am 15. März jedoch schon rund 21.000 Infektionen und am 8. April bereits 140.000 - bei einer viel niedrigeren Testrate!

Südkorea hatte erstens - im Gegensatz zu anderen Staaten - eine Strategie, die ein erfolgreiches Krisenmanagement ermöglichte. Zweitens zeichnete sich die Regierung durch eine dezidierte und überzeugende Führung aus. Drittens waren und wurden die institutionellen Voraussetzungen geschaffen, um die Strategie umzusetzen. Viertens setzte die Zivilbevölkerung aufgrund des Vertrauens, das sie in die Regierung und die Behörden hatte, die notwendigen Maßnahmen um.

Alle Fälle - auch die milden - wurden nachverfolgt

Einer der wesentlichsten Faktoren für den günstigen Verlauf in Südkorea bestand darin, dass Regierungsbehörden ohne Zögern die Zusammenarbeit mit Wissenschaftern und Unternehmen aufnahmen, die auf die Herstellung von Tests spezialisiert waren. Wenige Tage, nachdem chinesische Forscher die genetische Sequenz des Sars-CoV-2-Virus publik gemacht hatten, begannen südkoreanische Firmen mit der Entwicklung und Lagerung von Testkits. Simultan wurden 600 Teststationen und 80 Drive-through-Zentren aufgebaut. Man konnte gleich durchs Autofenster eine Speichelprobe abgeben, das Ergebnis kam einige Stunden später via Telefon.

Als sich die Lage im Februar zuspitzte, konnten 10.000 Menschen pro Tag getestet werden. Bis 8. März, als die steile Kurve der Neuinfektionen etwas abzuflachen begann, gab es 188.518 Tests - in Italien waren es zu diesem Zeitpunkt 49.937, in den USA 3.069. Italien hatte bis Mitte März mehr als 1.000 Tote zu beklagen, Südkorea nur 67. Dank der "Testing, Tracing, Treating"-Strategie wurden fast alle auftretenden Fälle - auch milde und symptomlose - erfasst und nachverfolgt.

Neben massenhaftem Testen und kompromissloser Verfolgung der Infektionsketten wurden positiv Getestete und alle, mit denen ein Kontakt nachgewiesen wurde, rigoros unter Quarantäne gestellt. Die Einhaltung wurde strikt kontrolliert, Nachbarn wurden gewarnt. Im Zuge des "Tracing" wurde von jedem erfassten Infizierten ein Bewegungsprofil mit genauen zeitlichen Angaben zunächst in Interviews erstellt, für die die Gesundheitsämter zuständig waren. Lücken ergänzte man durch Informationen aus Zahlungsvorgängen und Bewegungsdaten der Telefongesellschaften. Mittels entsprechender Daten wurden auch jene, die vor und nach Infizierten an einer Kasse bezahlt hatten, identifiziert, umgehend verständigt und aufgefordert, sich testen zu lassen. Die Bewegungsprofile wurden auch anonymisiert ins Netz gestellt. Wer diese Wege gekreuzt hatte, konnte sich sofort an einer der mobilen Stationen testen lassen.

Infrastruktur zur Pandemiebekämpfung

Die nach der Mers-Epidemie 2003 eingerichteten Korea Centers for Disease Control and Prevention (KCDC) waren darauf vorbereitet, für dieses ziemlich aufwendige Verfahren in kurzer Zeit entsprechende Ressourcen zu mobilisieren. Auch die rechtlichen Grundlagen für ein solches Vorgehen waren nach dem Mers-Ausbruch geschaffen worden. Das Gesetz zur Kontrolle und Prävention von Infektionskrankheiten war nicht nur eine Reaktion auf die Pandemie selbst gewesen, sondern auch auf das Verhalten der damaligen Regierung, Informationen zurückzuhalten, deren Veröffentlichung sie nicht für wünschenswert hielt. Die KCDC unterrichteten nun die Bevölkerung in täglichen Presse-Briefings und erläuterten die erforderlichen Maßnahmen.

Darüber hinaus nahmen die Behörden weitere technische Anwendungen in Anspruch. GPS-Karten in einer Smartphone-App stellten die Ausbreitung der Infektion dar. In Frankreich wurde eine solche App Ende Mai vorgestellt, in Deutschland wollte man sie im Laufe des Juni einführen. Außerdem untersagte die Regierung wie in vielen anderen Ländern Massenveranstaltungen und schloss Einrichtungen, in denen potenziell viele Menschen zusammenkamen. Neben Heimarbeit wurde auch der Beginn des Schuljahres verschoben.

Wahlen trotz der Corona-Pandemie

All dies machte in Südkorea so radikale Maßnahmen wie später in großen Teilen Europas nicht nötig. Es gab nie einen generellen Lockdown, keine generellen Kontaktsperren, Inlandsreisebeschränkungen oder verordnete Schließungen von Behörden, Betrieben oder Geschäften. Auch die Wahlen fanden wie geplant am 15. April statt, bei 66 Prozent Beteiligung. Die Demokratische Partei von Präsident Moon Jae-in siegte dank ihrem dezidierten, transparenten und erfolgreichen Krisenmanagement erstaunlich klar. Sie und eine mit ihr verbündete Organisation gewannen 180 der 300 Parlamentssitze. Zu diesem Zeitpunkt zählte Südkorea etwa 11.000 Infizierte und 208 Tote - in Großbritannien (60 Millionen Einwohner) waren es 89.000 Infizierte und mehr als 13.000 Tote, in Italien 165.000 Infizierte und weit mehr als 21.000 Tote.

Wie empfindlich Südkoreas Behörden reagieren, war Ende Mai zu beobachten: Am 27. Mai meldeten die Gesundheitsämter einen Rückschlag bei der Eindämmung des Virus, nämlich 40 Neuinfektionen. An den beiden Folgetagen gab es noch mehr. Die Regierung vermutete einen nachlässigeren Umgang mit Schutzmasken aufgrund des wärmer werdenden Wetters. Sofort mussten öffentliche Einrichtungen wie Museen, Theater und Kulturzentren wieder schließen. Für Öffis und Taxis war die Maskenpflicht schon vorher eingeführt worden. Zu diesem Zeitpunkt galt in Deutschland die Regelung, dass sich täglich nicht mehr als 5.000 bis 6.000 Menschen neu infizieren dürften, um die bereits nach und nach eingeführten Lockerungen aufrechterhalten zu können - der Grenzwert in Südkorea waren 50 Neuinfektionen pro Tag.

Europa reagierte viel zu spät und unentschlossen

Wenn auch einige der Maßnahmen, mit denen Südkorea und andere asiatische Länder die Pandemie in den Griff bekamen, in Europa rechtlich nicht zulässig sind: Viele wurden - selbst als das Gesundheitssystem in Teilen Italiens kollabierte - erst gar nicht evaluiert, geschweige ausgeschöpft. In vieler Hinsicht reagierten europäische Wissenschafter und Politiker (nicht zu reden von den Präsidenten der USA und Brasiliens) viel zu spät und unentschlossen. Österreich und vor allem Griechenland stehen da im europäischen Vergleich gut da.

Mit Blick auf Südkorea relativieren sich auch viele Diskurse der vergangenen Monate in europäischen Medien. Die Debatten über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit sowie das Kontemplieren über westliche Individual- und asiatische Kollektivwerte spiegelten vor allem die Tatsache, dass der Ernst der Lage nicht begriffen wurde. Als man ihn schließlich erkannte, wurden viele Bedenken über Bord geworfen. Von der (wenigstens partiellen) Maskenpflicht bis zur Außerkraftsetzung grundlegender bürgerlicher Freiheiten trafen die Behörden Maßnahmen, die in anderen Ländern - ob nun (semi-)demokratisch oder autoritär - längst zum Repertoire erfolgreicher Pandemiebekämpfung gehörten.

Mit dem Lockdown in Europa erfuhr die Debatte über deliberative Demokratie und Freiheit in Europa versus autokratische Mentalität und konfuzianische Kultur in Asien eine groteske Umkehrung. Die rigiden Hygiene-, Überwachungs- und Quarantänevorschriften in asiatischen Ländern sorgten nicht nur dafür, dass es viel weniger Infizierte und Tote gab als in Europa; sie hatten auch zur Folge, dass individuelle und kollektive Freiheiten auf allen möglichen Gebieten viel weniger eingeschränkt werden mussten als in den meisten Ländern Europas.