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Eine Scheinreform mit Folgen

Von Alexander Dubowy

Gastkommentare

Verfassungsreform in Russland: Wird alles neu?


Die russische "gesamtnationale Volksabstimmung" am 1. Juli 2020 soll der größten Verfassungsreform seit der Einführung der Verfassung im Jahr 1993 einen möglichst hohen Grad an demokratischer Legitimität verleihen. Neben vielen umstrittenen Änderungen wird eine Annullierung präsidialer Amtszeiten Wladimir Putin erneute Kandidaturen sowohl 2024 als auch 2030 ermöglichen. Mit der Erweiterung des Einflusses des Präsidenten innerhalb des russischen Machtsystems reagiert der Kreml auf die Protestwellen 2018/2019, behält die Kontrolle über den Machttransit und bereitet sich, sicherheitshalber, auf eine nicht zur Kooperation bereite, Putin-unfreundliche Staatsduma vor. Vor allem aber rückt mit der Verfassungsreform die heiß diskutierte Nachfolgerfrage in den Hintergrund.

Der Machttransit in der aktuellen Form entpuppt sich als jedenfalls vorläufiger Machterhalt für das System Putin. Der hinausgezögerte Machttransit dürfte aber nach dem Rückzug Putins umso problematischer ablaufen und Russland an den Rand einer schweren politischen Sinnkrise bringen. Der schmale Grat zum Abgrund revolutionärer Umbrüche dürfte aber selbst in diesem Fall nicht überschritten werden.

Wer wird Putins Nachfolgerals russischer Präsident?

Der heutige russische Premierminister Michail Mischustin bleibt nach wie vor ein technisch-ausführender und nicht ein politisch-gestaltender Premierminister. Als reiner Technokrat für alle Härtefälle, ohne politische Ambitionen und Hausmacht, sollte Mischustin, wie die beiden technokratischen Premiers der Nullerjahre, Michail Fradkow und Wiktor Zubkow, die zentralen Aufgaben (Durchführung der Verfassungsreform und nationaler Projekte) technisch einwandfrei administrieren. Damit erfüllt er aber eine viel wichtigere Aufgabe, nämlich eine stabile Grundlage für den kommenden politischen Premier vorzubereiten. Mischustins ansehnliche Leistungsbilanz während der Corona-Krise sicherte ihm zwar die Gunst Präsident Putins, seine realpolitische Rolle bleibt jedoch nach wie vor begrenzt. Insofern sollte der Technokrat Mischustin nicht als ernstzunehmender Nachfolger Putins betrachtet werden. Aber auch der zukünftige politische Premier sollte lediglich als möglicher - aber eben nur ein möglicher und nicht der sichere - Nachfolger gehandelt werden. Denn die Nachfolgerfrage bleibt weiterhin offen.

Ein Vertreter der Gruppe der sogenannten Silowiki (Personen mit Geheimdienst-, Polizei oder Militärhintergrund) als Premierminister ist nur schwer vorstellbar. Dies würde die Chancen beispielsweise von Alexej Djumin, dem Gouverneur des Gebietes Tula, oder Dmitri Mironow, dem Gouverneur des Gebietes Jaroslawl, mindern. Denn gegenüber den Silowiki verfolgt die russische Führung die Politik des Teilens und Herrschens mit dem Ziel, eine Konsolidierung der Silowiki rund um eine andere politische Figur als Putin zu verhindern. Selbst offen ausgetragene Konflikte innerhalb dieser heterogenen Gruppe (wie etwa zwischen Inlandsgeheimdienst und Ermittlungskomitee) werden vom Kreml geduldet, ja zeitweise bewusst gefördert. Zu groß erschiene aus der Sicht des Kremls die Gefahr, die Führungsrolle - und somit die Kontrolle über diese Gruppe - an einen jüngeren potenziellen Kronprinzen zu verlieren und eine Palastrevolte zu riskieren.

Aber auch der ewige Kronprinz Dmitri Medwedew sollte trotz seiner ruhmlosen Absetzung im vergangenen Jänner nicht abgeschrieben werden. Der eigens für Dmitri Medwedew geschaffene Posten des stellvertretenden Leiters des Sicherheitsrates sieht auf den ersten Blick nach einer klaren Degradierung, bestenfalls einem vorübergehenden Versorgungsposten, aus. Dieser Eindruck täuscht aber. Angesichts des tiefen Vertrauens- und Loyalitätsverhältnisses zwischen Putin und seinem ehemaligen Premier dürfte Medwedew für höhere Weihen bestimmt sein und wird in den kommenden Jahren den Machttransit eng mitbegleiten. Derzeit positioniert er sich - medial wie innerelitär - als führender gemäßigt liberaler Politiker mit systemischem, ganzheitlichem Blick auf die internen und externen Probleme Russlands, als Verfechter der "Neuen Globalisierung", als Befürworter multilateraler internationaler Kooperationen und Institutionen sowie als Vertreter einer strategischen Partnerschaft mit China und einer pragmatischen, interessenbasierten Partnerschaft mit der EU.

Eine neue Generation junger Technokraten profiliert sich

Bedeutet die Verfassungsreform politischen Stillstand in Russland? Nicht unbedingt. Die Frage des Machttransits hin zu einem Post-Putin-Russland beschränkt sich nicht auf die Person des Präsidenten oder auf einen einzelnen Nachfolger. Eine ganze Nachfolgergeneration bezieht gerade in Russland machtpolitisch Stellung auf unterschiedlichen Ebenen. Und mit jedem Tag gewinnt sie an Stärke, Profil und Einfluss. Ganz im Sinne des laufenden Generationenwechsels sind die Vertreter der neuen Generation junger Technokraten (etwa Anton Alichanow, Gouverneur des Gebietes Kaliningrad, Anton Wajno, Vorsitzender der Präsidialadministration, oder auch Aisen Nikolaew, Oberhaupt der Republik Jakutien) bereits heute in wichtigen Positionen zu finden. Sie werden in den kommenden Jahren sowohl den Posten des Premiers als auch einige Ministerien übernehmen und entscheidenden Einfluss auf die Geschicke des Staates über den mit zusätzlichen Kompetenzen ausgestatteten Staatsrat ausüben.

Die Vertreter dieser Gruppe haben im westlichen Ausland studiert, pflegen ein betont angelsächsisches Auftreten und sind dennoch nicht pro-westlich eingestellt. Sie gehen lösungsorientierter an die komplexen Probleme heran, scheuen sich nicht davor, Konflikte einzugehen, und wirken dabei erstaunlich unpolitisch. Sie ähneln nicht der alten - kriecherisch gegenüber den Vorgesetzten und der Politik, gebieterisch gegenüber den Untergebenen und der Bevölkerung agierenden - (Post-)Sowjetbürokratie, sind jedoch eiskalte Pragmatiker der Macht.

Mehr Kontrolle und vor allem Zeit durch sichere Wiederwahl

Für sich dürfte Putin als politischer Ziehvater der neuen Technokraten die denkende und lenkende Rolle beim Generationenwechsel sowie beim bevorstehenden evolutionären Umbau des gesamten Staats- und Machtsystems vorgesehen haben; dies wohl im Geist von Deng Xiaoping oder Lee Kuan Yew. Durch die erneute Kandidatur und die sichere Wiederwahl 2024 erhofft sich Putin mehr Kontrolle, vor allem aber mehr Zeit, um die bevorstehenden Veränderungen unter enger Begleitung abzuschließen.

Das von ihm über die vergangenen zwei Jahrzehnte geschaffene Machtsystem verändert sich langsam, aber grundlegend und unwiderruflich. Letzteres gilt aber auch für die russische Gesellschaft, die schrittweise zu politischem Selbstbewusstsein gelangt, nach mehr Mitbestimmung strebt, politische Bevormundung ablehnt und für die Pläne des Kremls die eigentliche Schlüsselunsicherheit darstellt.