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Hobeln, ohne dass Späne fliegen

Von Ernst Smole

Gastkommentare
© stock.adobe.com/opolja

Von Schule bis Bundesheer: Politische Reformen müssen auch richtig kommuniziert werden.


Reformvorhaben scheitern oft an Missverständnissen um die Bedeutung von Begriffen und aufgrund einer nicht vorhandenen, wohlüberlegten "Technik des Veränderns". Ein traditionelles Opfer des wiederholten Scheiterns politischer Reformen - nicht aufgrund des Reforminhalts, sondern wegen eines nicht durchdachten Vorgehens beim Reformieren - ist der Bildungsbereich. Aktuell ist auch die Landesverteidigung von Diskussionen über tiefgreifende Reformen betroffen.

Die allgemein gehaltene Ankündigung von Reformvorhaben in einem Regierungsprogramm etwa erntet meist zunächst wenig Widerspruch - an Begriffen wie Strukturmaßnahmen, Effizienzsteigerung oder Zukunftssicherung stößt sich niemand. Die grundsätzlichen Aussagen dann in konkrete Maßnahmen zu gießen, die auch deutlich machen, wer wie betroffen sein wird, ist etwas anderes. Es darf nicht erstaunen, wenn dies auf verlustangstgeleiteten Widerstand derer stößt, die sich negativ betroffen fühlen.

Dies kann durch einen zweckentsprechenden beidseitigen Konsultationsmechanismus zwischen zuständigem Ministerium und betroffenen Institutionen und Gruppierungen vorab verhindert werden. Es ist nicht ausreichend, konkrete Maßnahmen ohne vorhergehende Kommunikation lediglich unter Hinweis aufs Regierungsprogramm - wo sie personell, örtlich und zeitlich "anonym" sind - via Medien auszurichten. Das provoziert geradezu zwingend Widerstand.

Ernst Smole war Berater der Bildungsminister Fred Sinowatz, Herbert Moritz und Helmut Zilk. Er koordiniert den "Unterrichts:Sozial:Arbeits- und Strukturplan für Österreich 2015 - 2030" (www.ifkbw-nhf.at).
© privat

Kollateralschäden vermeiden

Angetrieben von Reformeifer und Sendungsbewusstsein, werden nicht selten die Verlustängste der Betroffenen übersehen. Je größer die aktuelle Zufriedenheit, desto massiver sind naturgemäß Verlustängste, die angekündigte Änderungen erzeugen. Je mehr man hat, desto mehr kann man verlieren. Das Absinken der Zufriedenheit angesichts angekündigter Reformen könnte jedoch durch ein durchdachtes Procedere des politischen Reformierens vermindert oder vermieden werden und die Akzeptanz für Reformen generell erhöhen. Dass der Begriff "Reformitis" in der Alltagssprache fürs Krankheitsbild "Misslungene Reform" steht, zeigt einen tatsächlich massiven Reformbedarf für politische Reformvorgänge.

Reformer argumentieren stets mit dem flächendeckenden Win-win-win am Ende eines Reformprozesses. Sie haben ein langfristig zu erreichendes, aber klares und lohnendes Ziel vor Augen - wie die Wege dorthin beschaffen sein müssen, interessiert sie oft nicht so sehr, angetrieben von verständlicher Ungeduld und der Angst, unnötig Zeit zu verlieren. Die Betroffenen dagegen treiben meist völlig andere Fragen um: "Was bedeuten die ersten drei Meter, die ersten vier Kilometer, die ersten fünf Minuten, die ersten sechs Monate dieser Reform für mich persönlich?" Auf diese so bedeutende Frage haben die Reformer oft keine Antwort, sie blicken meist nur auf das große Ziel. Kollateralschäden nehmen sie in Kauf, oft gar nicht bewusst.

Gelingendes Reformieren aber bedeutet: Hobeln, ohne dass Späne fliegen. Aufgrund der riesigen Menge an gesichertem, unbegrenzt verfügbarem Wissen und digitaler Kommunikationsmittel ist heute das Reformieren ohne Kollateralschäden - irrationale Ängste, reflexhafte Ablehnung, sachlich nicht begründbare Widerstände - tatsächlich möglich geworden. Man muss es nur tun.

Verlustängste ergründen

Nicht selten werden aufgrund ungenügend vorbereiteter, ausgestalteter und kommunizierter Reformen formal Gesetze beschlossen, ohne dass die für deren Ausführung nötigen Ressourcen - im Schulbereich sind dies Lehrpersonen, Räumlichkeiten, Unterrichtsmittel - gesichert sind: Die Reform findet dann de facto nicht statt. "Wegnicken - so tun als ob" nennt sich diese Praxis, zu der es aus Ressourcenmangel oft keine Alternative gibt.

Erfolgreiches Verändern setzt behutsam-verständnisvollen Umgang mit den Verlustängsten der Betroffenen voraus. Diese zu ergründen, kostet um ein Vielfaches weniger Zeit, Geld, Nerven, politische Glaubwürdigkeit und Motivation als die Folgen ungenügend vorbereiteter und ungeschickt frontal kommunizierter Reformen - Unklarheiten, Fehlinterpretationen, Ängste, Unsicherheit, wenig vertrauenserweckende, nach vorn und zurück rudernde Slalom-Argumentationen von Ressortchefs, Spott und Häme in den Medien, Verunsicherung, Imageschäden für die Politik insgesamt und - am verhängnisvollsten - die Verhärtung der Ablehnung von Reformen generell, die das Bewusstsein für deren enorme Bedeutung ins Abseits drängt.

Doch wie sollte man etwa dem verheerenden Faktum, dass in Wien 66 Prozent der künftigen Lehrlinge das Lesen, Schreiben und Rechnen nicht berufsfähig beherrschen, anders begegnen als mit durchdachten Reformen? Andernfalls könnten wir in wenigen Jahrzehnten ein Volk von "Idiotai" sein - also von Menschen, die nach dem Verständnis der Demokratie im Athen der Antike nicht am öffentlichen, also am politischen Leben teilnehmen, weil ihnen die Voraussetzungen dafür fehlen. Zunehmende Probleme mit Übergewicht und Bewegungsmangel - beides kann die kognitiven Fähigkeiten erheblich beeinträchtigen - beschleunigen besorgniserregende Entwicklungen.

Gelangen wir nicht in absehbarer Zeit flächendeckend zu einer Praxis des gelingenden politischen Reformierens, kann dies das Ende unserer Demokratie bedeuten. Demokratiefähigkeit setzt nämlich Zukunftsfähigkeit voraus. Zukunftsfähigkeit bedeutet, abstrahieren zu können, denn Zukunft ist das Abstractum, das "Un-Denkbare" an sich. Die Schule des Abstrahierungskönnens für uns alle ist die Aneignung des Lesens, Schreibens und Rechnens. Ohne diese unverzichtbaren Grundkompetenzen gibt es keine Abstrahierungsfähigkeit, kein Zukunftsbewusstsein, keine Demokratiefähigkeit. Wollen wir das?