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Österreich pfeift auf seine Geschichte

Von Muamer Becirovic

Gastkommentare

Miserabler Umgang mit Quellen und ein Mangel an jungen Publizisten.


Österreich hat mit den Habsburgern, einer der ältesten Dynastien Europas, eine imperiale Geschichte, die auf der Welt ihresgleichen sucht. Trotz dieses historischen Reichtums gibt es ein mangelndes historisches Bewusstsein in der österreichischen Politik und der Gesellschaft selbst. Das liegt nicht zuletzt am desaströsen Umgang mit seinen Archiven und Studenten.

Mit den historischen Materialien, den Quellen, wird schlecht umgegangen. Sie sind für einen wissbegierigen Studenten oder für einen Interessierten so gut wie unüberschaubar geworden. Nur ein Beispiel, um die Tragweite der Konsequenzen zu veranschaulichen: Es gibt im 18. Jahrhundert im Habsburger Reich keinen bedeutenderen Außenpolitiker als Staatskanzler Wenzel Anton Graf Kaunitz-Rietberg (1711 bis 1794). Jedoch gibt es zu diesem Mann vielleicht drei bis fünf edierte Quellenherausgaben seiner politischen Korrespondenz.

Österreich schreibt seine Geschichte nicht mehr selbst

Blickt man zu seinem Nachbarn und erbitterten Feind, dem Preußenkönig Friedrich II., so wurden zu diesem mehr als 40 Bände (allesamt digitalisiert!) mit politischer Korrespondenz veröffentlicht. Allein dieser quantitative Unterschied hat zur Auswirkung, dass tausende Bücher über Friedrich den Großen publiziert wurden und so gut wie nichts über Kaunitz, obwohl Zweiterer eine Ausnahmeerscheinung in der Kunst der Außenpolitik und mit Sicherheit einer der bedeutendsten Staatsmänner des 18. Jahrhunderts war.

Die Quellen sind das Fundament einer guten Geschichtsschreibung. Ohne diese gibt es keine Geschichte. Und doch verhält sich die österreichische Politik und Gesellschaft ihrer Geschichte nicht wertschätzend gegenüber. Österreichs Politik pfeift auf die Geschichte, indem die Archive und Bibliotheken heruntergewirtschaftet und die Posten nach Parteibuch besetzt werden.

Die meisten global bekannten Bücher über das Habsburger Reich werden mittlerweile von Nicht-Österreichern verfasst, von Menschen, die weit geringeren Zugang zum archivarischen Material hatten als unsere Publizisten. Doch wieso? Weil die österreichische Politik den Sinn für Kultur und ihre Bedeutung verloren hat. Wer sein Archiv, das Gedächtnis eines Staates, derart miserabel und wertlos behandelt, wird mit seiner Identität in einem Zwiespalt kommen und sie sogar verlieren. Ist es denn nicht bereits heute schon so? Was wissen wir von unserer Geschichte denn noch? Diejenigen, die die österreichische Identität definieren, sind großteils am deutschnationalen Rand zu verordnen. Weder die Sozialdemokratie noch die Christdemokraten haben darauf eine Antwort oder machen sich Gedanken dazu.

Ein weiteres Problem ist die geringe Publikation der jungen Studenten und Absolventen an der Universität Wien. Ich kann mich nicht erinnern, einen interessanten Essay oder eine Publikation eines Studenten oder Absolventen jemals in den Händen gehalten zu haben. Und das liegt nicht an meinem geringen Interesse, sondern weil so gut wie niemand mehr publiziert. Ja, diesen Anspruch haben die wenigsten. Und denen, die das wirklich wollen würden, werden alle möglichen Steine in den Weg gelegt.

Enormer Verlust von gedanklicher Tiefe

Es braucht für gute Publikationen ein exzellent verwaltetes Archiv, das mit genügend Geld ausgestattet ist, um Innovation und Service anzubieten. Es braucht dafür Experten auf ihren Gebieten und keine Versorgung von braven Parteisoldaten. Die österreichische Politik und Gesellschaft müssen ein Interesse an geistig fähigen Menschen in den Geisteswissenschaften haben, da diese Erkenntnisse liefern können, die zur Bewältigung gegenwärtiger Probleme äußerst hilfreich sein können.

Spreche ich Österreichs Politik auf diese Zustände an, dann gibt es nicht einmal den Funken eines Verständnisses dafür. Das hat wohl auch damit zu tun, dass die heranwachsende politische Kaste viel mehr die technischen Mechanismen der Gesellschaft und Politik lernt als die geistigen. Sie lernt, wie man in der Politik zu einer Entscheidung kommt - aber nicht, was für eine Entscheidung zu treffen ist. In den Machtsphären geht ein erstaunliches Maß an gedanklicher Tiefe verloren, weil es so gut wie niemanden mehr an der Macht gibt, der darauf Wert legt. Die Geschichte ist die Erfahrung aller Welt. Wer aus ihr nicht lernen will, weil sie angeblich tot sein soll, der lernt auch nicht aus seinen persönlichen Erfahrungen - und ist damit ein Narr.