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Europa im Desaster

Von Rainer Stepan

Gastkommentare

Was kann, was sollte getan werden?


Großbritannien verlässt endlich die EU; schon Winston Churchill wollte in seiner berühmten Züricher Rede 1946, in der er für ein "Vereintes Europa" plädierte, dass Großbritannien die Patenschaft dafür übernehmen, aber niemals Mitglied werden sollte. Das ist derzeit - vom Coronavirus abgesehen, zu dessen realen Auswirkungen die Rechtspopulisten ziemlich wortkarg wurden - eine große Chance für die verbliebenen 27 EU-Mitglieder, zu einer echten funktionierenden Vertiefung des Gemeinschaftsgefüges, der gemeinsamen Agenden mit Mehrheitsprinzip, zu finden.

Aber diese Europäische Union hat - wie der Essayist Robert Menasse es formuliert hat - einen Geburtsfehler in Form des allmächtigen Europäischen Rates. Dieser dürfte maximal beratende Stimme haben, aber nicht mehr. Das Gegenteil jedenfalls ist traurige Realität, weil da die nationalen Krämer jeweils ihr Süppchen kochen und jeden Fortschritt verhindern können und dies auch massiv tun.

Außerdem müsste die Europäische Union Stärke zeigen, indem sie Ungarn einem Ausschlussverfahren unterzieht und das Land - soweit Ungarn nicht essenziell einlenkt und wieder eine funktionierende liberale Demokratie herstellt, von der es sich bereits weit entfernt hat - auch tatsächlich mit allen Konsequenzen ausschließen. Aber im Europäischen Rat hat ein solches Ausschlussverfahren keine Chance, weil zumindest Polen, das sich tatsächlich auf demselben Weg befindet, dem nicht zustimmen würde.

Gemeinsame Aufarbeitung der europäischen Geschichte

Innenpolitisch sollte alles unternommen werden, um von Brüssel - oder besser vom Europarat in Straßburg - aus die Aufarbeitung der Geschichte der EU-Mitgliedstaaten als großes, gemeinsames Projekt durchzuziehen; und jedes Mitglied müsste vorher schriftlich sein Einverständnis beurkunden, die Ergebnisse der gemeinsamen Geschichtsforschung anzuerkennen und in den Schulen, an den Erwachsenenbildungsstätten sowie in den öffentlichen Medien darüber offen zu berichten. Es gibt diesbezüglich jedoch keinerlei Initiativen, und in vielen Ländern der EU werden von nationalistischen bis autoritären Regierungen historisch einseitige Mythen verbreitet.

Darüber hinaus sollte in allen Mitgliedstaaten seitens der EU eine breite Informationskampagne zu den europäischen Werten und der Bedeutung ihrer Anwendung im politischen Alltag gestartet werden. Alle EU-Staaten bräuchten das! Mitglieder, die sich weigern, dieser gemeinsamen Initiative wirkungsvoll - entsprechend einem Kriterienkatalog - nachzukommen, müssten spürbaren, mit Mehrheitsbeschluss gefassten Sanktionen unterzogen werden. Nur so kann man den Rechtspopulisten entgegenarbeiten und wieder demokratisch zustande gekommene Mehrheiten erreichen, die an einer echten Integration interessiert sind. Es gibt keinerlei Ansätze in diese Richtung außer der undefinierten Verwendung der Formel "europäische Werte" in Sonntagsreden.

Es ist höchste Zeit, dass die EU-Kommission in Abstimmung mit den Europa befürwortenden Parteien des EU-Parlaments eine tiefgreifende Institutionenreform vorbereitet, die schließlich in einer EU-weiten Volksabstimmung - unter Ausschluss der Staaten, die eine breite, demokratische Diskussion darüber verhindern - beschlossen oder abgelehnt werden sollte; einen Versuch wäre es wert. Gibt es Ansätze dazu? Seit den Beschlüssen der sechs Gründerstaaten von Messina 1956 sind die Institutionen grosso modo in der internen Machtverteilung des gemeinsamen Europa nahezu gleich geblieben - nach 64 Jahren und mittlerweile 27 Mitgliedstaaten.

Entwicklungsprojekteauf Augenhöhe

Außenpolitisch müsste endlich nachhaltige, für beide Seiten einträgliche Entwicklungshilfepolitik, gemeinsam mit den Fachleuten der betroffenen Staaten, unter Einbeziehung möglichst vieler Bürger der betroffenen Regionen oder Staaten gestartet werden. Bis dato waren auch alle Verträge der EU mit den afrikanischen Staaten - etwa das EPA-Freihandelsabkommen, zuletzt aus dem Jahr 2014 - so abgefasst, dass die betroffenen Entwicklungsländer derart geknebelt werden, dass ihnen eine die reine Rohstoffgewinnung und -lieferung überwindende, höherwertige Wirtschaftsentwicklung unmöglich gemacht wird.

Generell überfluten die Europäer mit in der EU subventionierten Lebensmitteln die afrikanischen Märkte zu Preisen, die die einheimischen Bauern ruinieren. Solange diese Politik betrieben wird, können Entwicklungshilfeorganisationen wie beispielsweise die GIZ noch so schöne Projekte um viel deutsches Steuergeld in Afrika oder anderswo umsetzen - die EU-Freihandelsverträge geben diesen keine Chance auf Nachhaltigkeit.

Nur wenn auf Augenhöhe mit den afrikanischen und anderen Entwicklungs- oder Schwellenländern von beiden Seiten gewollte Projekte erarbeitet und durchgeführt werden, kann diese Politik nachhaltig erfolgreich neue Märkte entwickeln. Diese sind nur dann auf Dauer erfolgreich, wenn sie einerseits für breite Bevölkerungsgruppen einen gewissen, langsam, aber sicher ansteigenden, spürbaren Wohlstand bringen und andererseits auch für europäische Investoren mittel- bis langfristig Erfolgschancen seriös kalkulierbar machen.

Neben den schwarzafrikanischen Staaten müssten derart seriöse, beider Seiten Interessen berücksichtigende Entwicklungsabkommen und Projektumsetzungen mit den Staaten Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens - soweit nicht kriegführend - wie auch mit den südkaukasischen und zentralasiatischen Ländern abgeschlossen und Schritt für Schritt umgesetzt werden, die Türkei eingeschlossen sowie auch ein diesbezüglich seriöses Angebot an Russland.

Damit wäre Europa endlich wieder ein aktiver Player in allen diesen Regionen. Es würde vom Westen aus "Seidenstraßen" errichten und den Einfluss Chinas insofern zurückdrängen, als dieses dann gezwungen wäre, sich als Juniorpartner Europas Initiativen unter europäischen Bedingungen, wie Änderungen in der Sklavenhalterpolitik gegenüber den Uiguren, anzuschließen. Das Gleiche gilt für den Umgang mit der Türkei und Russland. Aktuell sind das Tagträume, denn die politische wie wirtschaftliche Realität ist genau gegenteilig. Es ist noch nicht zu spät, aber bereits sehr spät; doch Initiativen in diese Richtung seitens der EU sind nicht absehbar.

Europarat aus seinem Dornröschenschlaf wecken

Sollte, müsste, sollte - doch was tut Europa tatsächlich? Grenzen dicht vor ein paar tausend Flüchtlingen, schon allein aus Angst vor den Rechtspopulisten. Ein elendes, demokratiepolitisch wie menschenrechtsmäßiges Versagen. Politik sollte heißen: gestalten, in die Entwicklung der Gesellschaft richtungweisend einzugreifen, also dem Souverän erklären, warum was wie gemacht wird. Der Bürger ist oft vernünftiger, als mancher Volksvertreter über ihn denkt. Aber natürlich ist es einfacher, dem Mainstream zu folgen, der aber Schritt für Schritt von menschengerechter, vernünftiger und zukunftweisender demokratischer Politik wegführt; allein die politische Wortwahl zeigt diesen kulturhygienischen Verfall. Diese noch demokratischen Politiker sind die Wegbereiter von FPÖ, AfD, Front National, Schwedenpartei etc.

Obwohl heute doch prinzipiell andere Voraussetzungen gegeben sind, sollte dennoch die Zwischenkriegszeit 1918 bis 1938/39 als Lehrbeispiel für jeden aktiven, sich noch im demokratischen Spektrum bewegenden Politiker sein. Der Europarat wäre aufgerufen, kulturpolitisch und historisch aktiv zu werden, er müsste aber vorher aus seinem Dornröschen-Schlaf wachgeküsst werden. Wer macht das? Die EU ist aufgefordert, im oben angedeutetem Sinn mannigfach aktiv zu werden. Wo sind die diesbezüglichen Initiativanträge des EU-Parlaments an die EU-Kommission?