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Geht es wirklich nur um Gesundheit?

Von Stefan Haderer

Gastkommentare
Stefan Haderer ist Kulturanthropologe und Politikwissenschafter.
© privat

Die Corona-Pandemie zeigt EU-Schwächen auf.


Man sollte Corona ein "Virus der Wahrheit" nennen. Auf erschreckende Weise führt uns die Pandemie nämlich ein Zerrbild unserer Gesellschaft vor Augen und zeigt Schwächen im demokratischen System auf: Besonders jetzt realisieren wir zum Beispiel, wie wichtig ein funktionierendes Gesundheitswesen ist. Aber auch, wie unkoordiniert die Europäische Union in eine weitere Krise gestürzt ist und immer mehr in Kleinstaaterei verfällt. Maßnahmen gegen die Pandemie werden auf Ebene der Bundesländer gesetzt, regionale Grenzen werden neu aufgezogen. Ein Trend, der durch das geplante "Ampel-System" für Risikogebiete verstärkt werden dürfte.

Corona beweist uns auch, dass unsere mühsam erkämpften Grundrechte und Freiheiten - zum Teil Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte europäischer Politik - binnen weniger Wochen von Regierungen außer Kraft gesetzt wurden. Alles für das Wohl und die Gesundheit der Bevölkerung, die den meisten Machthabern bis dato so ziemlich egal waren. Wie viele Menschen sterben täglich an Mangelernährung, an den Folgen ungesunder Ernährung oder an Krankheiten, die durch Schadstoffe, Umweltzerstörung und Klimawandel verursacht sind, wie etwa Tuberkulose, Malaria oder Dengue? Das soll die Corona-Epidemie nicht relativieren, aber eine bedenkliche Entwicklung aufzeigen: Es geht bei vielen Maßnahmen um weit mehr als um unsere Gesundheit.

Die aktuelle Bekämpfung der Pandemie stützt sich auf Regelungen, die mitunter sehr widersprüchlich oder sogar rechtswidrig sind, wie das jüngste Urteil des Verfassungsgerichtshofs betreffend Ausgangsverbote beweist. Mehrere Staaten haben die rote Linie schon überschritten - vom Entzug des Wahlrechts für Corona-Patienten über verpflichtende Apps zwecks Überwachung bis hin zur Offenlegung persönlicher Daten in Restaurants im Sinne des "Contact Tracing" -, und eine Rückkehr zur Normalität bleibt auch nach der Entdeckung eines Impfstoffs fraglich.

Gerade deshalb ist eine Koordination und rechtliche Kontrolle auf EU-Ebene absolut notwendig, um ein Auseinanderdriften der Mitgliedstaaten infolge der Rezession und steigenden Armut zu verhindern und soziale Unruhen, die zweifellos in Europa entstehen werden, einzudämmen. Gesundheit und Menschenrechte dürfen nicht länger von Regierungen und Parteien jeder Ausrichtung gegeneinander ausgespielt werden. Geht es den Entscheidungsträgern tatsächlich um das Wohlergehen aller, so müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Privatsphäre, Datenschutz und Reisefreiheit auch weiterhin garantieren und nicht sukzessive aushebeln.

Bisher ist es Regierungen gelungen, den Bürgern diverse Einschränkungen als plausibel zu verkaufen, die diese noch vor einiger Zeit nie mitgetragen hätten. Corona wird jedoch auch mit der Entwicklung von Impfstoffen und Arzneien nicht von der Bildfläche verschwunden sein. Spätestens dann werden sich viele Europäerinnen und Europäer zu Recht die Frage stellen: Was ist von unseren Werten, unserer Solidarität und vom Miteinander noch geblieben? Und was haben unsere Regierungen eigentlich geleistet, um demokratische Rechte zu bewahren und nicht als Tauschgeschäft gegen unsere Gesundheit zu opfern?