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Die US-Wahl als Chance für die Demokratie

Von Daniel Haufler

Gastkommentare

Konstruktionsfehler und andere Probleme haben Präsident Trump und seine ins Autoritäre abgleitende Politik erst möglich gemacht.


Die Präsidentschaftswahl in den USA ist eine einmalige Chance, die Demokratie des Landes zu retten. Das klingt pathetisch, aber um nicht weniger geht es bei der Wahl im November. Das hat viel mit Donald Trump zu tun - sein Tweet über eine Verschiebung der Wahl belegt das erneut -, aber längst nicht nur. Der US-Präsident tut zwar viel, um die Schwäche des politischen Systems und des Rechtsstaats zu entblößen. Doch die Probleme der US-Demokratie gehen viel tiefer. Sie haben Trump und seine ins Autoritäre abgleitende Politik erst möglich gemacht.

Die USA sind zwar nicht Ungarn. Sie haben eine lange Tradition des politischen Protests und des ausdauernden Kampfes für Bürgerrechte und gegen Rassismus. Doch die Diskriminierung von Minderheiten ist in keinem anderen entwickelten Industrieland so evident und ökonomisch wie kulturell verheerend. Daran haben seit gut 60 Jahren vor allem die Republikaner einen großen Anteil. Beginnend mit der "Southern Strategy" von Präsident Richard Nixon setzten sie einen nur leicht verhüllten Rassismus gezielt ein, um ihre weiße, vornehmlich ländliche Wählerschaft zu mobilisieren. Wie das funktioniert, hat Lee Atwater, einst Berater des republikanischen US-Präsidenten Ronald Reagan, so klar formuliert wie niemand sonst: "1968 konntest du nicht mehr ‚Nigger‘ sagen, das schadete dir. Also sagtest du Sachen wie ‚Rechte der Bundesstaaten‘ etc., du bleibst abstrakt. Jetzt sprechen wir eben über Steuersenkungen und all die ökonomischen Maßnahmen, die nebenbei Schwarzen mehr wehtun als Weißen." Diesen Code versteht die republikanische Basis sofort.

Neben der tendenziell rassistischen Politik arbeiten die Konservativen seit Jahren mit Eifer daran, Minderheiten das Wählen zu erschweren. Begünstigt wird das durch eine fatale Entscheidung des Supreme Court. Deren konservative Mehrheit erklärte 2013 eine Vorschrift des Voting Rights Act von 1965 für verfassungswidrig, die Wahlgesetze in ehemals besonders rassistischen Südstaaten unter Aufsicht der Regierung in Washington stellte. Damit sollte einst sichergestellt werden, dass Afroamerikaner nach dem Ende der Rassentrennung ungehindert ihre Stimmen abgeben können.

Seit diesem Urteil erschweren die Republikaner in mehr als der Hälfte der Bundesstaaten gezielt die Wählerregistrierung für Minderheiten. In Georgia konnten die Republikaner so den knappen Sieg des Reaktionärs Brian Kemp bei den Gouverneurswahlen 2019 sichern. Andere republikanisch regierte Bundesstaaten agieren ähnlich. Obendrein wird die Zahl der Wahllokale reduziert, natürlich in Gegenden, in denen Minderheiten leben, und gleichzeitig die Möglichkeit zur Briefwahl eingeschränkt.

Der demografische Wandel schadet den Republikanern

All diese undemokratischen Schikanen sollen etwas ausgleichen, was für die Republikanische Partei bedrohlicher ist als der politische Gegner: der demografische Wandel. In 20 Jahren schon wird ihre Kernwählerschaft nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Statt sich stärker gegenüber den Minderheiten zu öffnen, was eine parteiinterne Analyse nach der republikanischen Wahlschlappe 2012 nahelegte, entschied sich die Partei für das Gegenteil: den Rassisten Donald Trump.

Den Republikanern hilft zudem eine Fehlkonstruktion des politischen Systems in den USA. So haben die Wähler in vier der vergangenen fünf Präsidentschaftswahlen mehrheitlich für einen Demokraten gestimmt, aber nur Barack Obama wurde Präsident, nicht Al Gore, nicht Hillary Clinton. Drei Wissenschafter von der Universität Texas prognostizieren für die Zukunft: Bei knappen Wahlergebnissen gewinnen die Republikaner aufgrund des Wahlmännersystems in 65 Prozent der Fälle die Präsidentschaft - so wie eben 2016. Damals hatte Hillary Clinton fast drei Millionen mehr Stimmen bekommen als Trump. Hinzu kommt: Auch bei den vergangenen Senatswahlen erhielten die Demokraten mehr Stimmen als die Republikaner, aber nicht die Mehrheit. Ähnlich lief es in etlichen Bundesstaaten.

Die Mehrheit im Senat spiegelt obendrein bei weitem nicht die Mehrheitsverhältnisse in der Gesellschaft wider. Das hat historische Gründe. Als die Gründerväter das System erdachten, wollten sie den Zusammenhalt der neuen Vereinigten Staaten dadurch stärken, dass jeder Bundesstaat unabhängig von seiner Größe und Einwohnerzahl dort mit zwei Repräsentanten vertreten ist. Deshalb hat heute selbst das bevölkerungsarme Wyoming mit seinen etwa 600.000 Einwohnern zwei Senatoren. Die beiden kalifornischen Senatorinnen vertreten dagegen die Interessen von fast 40 Millionen Menschen. Im Ergebnis bedeutet all das: Die Republikaner brauchen derzeit weniger als 20 Prozent der Wählerstimmen, um Gesetze zu blockieren, erzkonservative Richter auf Lebenszeit zu ernennen oder eben die Amtsenthebung des Präsidenten zu verhindern.

Zentrale Fehler des Wahlsystems beheben

Mit diesem undemokratischen System und mit der Wählerdiskriminierung könnte und müsste nach diesen Wahlen Schluss sein - zumindest wenn sie so ausgehen, wie es momentan scheint: mit einem deutlichen Wahlsieg Joe Bidens und der Demokraten in beiden Kammern des Kongresses und in wichtigen Bundesstaaten. Ein solcher Erfolg würde für kurze Zeit - immerhin bis zur nächsten Wahl des Repräsentantenhauses - die Möglichkeit für die dringend nötigen demokratischen Reformen eröffnen. Die hatte schon Präsident Obama durchaus im Blick, doch seinerzeit hatte die Gesundheitsreform Priorität.

Nach einem Sieg Bidens und der Demokraten muss ein neues Wahlrechtsgesetz die erste Reform der neuen Regierung sein. Aufgrund der teils notwendigen Supermehrheiten lassen sich nicht alle Fehler des Wahlsystems beheben, einige zentrale aber schon. Am wichtigsten wäre eine automatische Registrierung von Wählern - wie sie in Deutschland oder Österreich existiert - und die ebenso automatische Zusendung der Wahlberechtigung. Jeder müsste auch die Möglichkeit zur Briefwahl haben und der Wahltag zum arbeitsfreien Feiertag erklärt werden. Die Wahlbezirke dürften nicht mehr von politisch einseitigen Gremien gezogen werden (Stichwort: Gerrymandering), sondern von unabhängigen Kommissionen, die dafür sorgen, dass jede Stimme in etwa das gleiche Gewicht hat.

Joe Biden hat eine einmalige Chance - und den Willen dazu

Die Parteipräferenzen der Wählerschaft dürfen im Gegensatz zur aktuellen Praxis keine Rolle spielen. Zudem müssten die Stimmen der Bürger im District of Columbia mit der Hauptstadt Washington und aus Puerto Rico endlich zählen, damit auch sie Repräsentanten entsenden können. Und zu guter Letzt gilt es, die Regeln des Wahlmänner-Gremiums so zu ändern, dass sie nicht mehr nach dem Winner-take-all-Prinzip abstimmen, sondern das Ergebnis in jedem Bundesstaat widerspiegeln. So würde das Wahlergebnis nicht mehr verzerrt. Einige dieser Reformen haben die Demokraten im Repräsentantenhaus bereits beschlossen - sie werden von den Republikanern im Senat blockiert.

Biden hat wohl die einmalige Chance zu diesen demokratischen Reformen - und auch den Willen dazu. Gelingen sie nicht, wird nach Pandemie, Wirtschaftskrise und Anti-Rassismus-Protesten am Ende wieder eine Minderheit den politischen und gesellschaftlichen Fortschritt des Landes verhindern. Denn: Trump mag im November untergehen, der Trumpismus wird länger leben, als es sich selbst manche Republikaner wünschen.