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Geschichtsbewusst reformieren

Von Ernst Smole

Gastkommentare

Warum es wichtig ist, sich beim Blick in die Zukunft auch mit der Vergangenheit zu befassen.


"Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft." Diese Perspektive liegt dem Bildungsideal des Wilhelm von Humboldt zugrunde, das seinen schulpraktischen Ausdruck im Humboldt’schen Gymnasium gefunden hat. Der steigende Stellenwert von Naturwissenschaft und Technik im Zuge der Industrialisierung hat Humboldts Idee des "zukunftsweisenden Blicks in die Vergangenheit" verdrängt. Ein Trend, der leider bis heute anhält.

Google ist zum Finden von "reiner Wahrheit" zwar nicht geeignet, doch allemal aufschlussreich ist dort die Zahl der Einträge zu bestimmten Themen. Und da sieht es für das Feld Geschichte im Schulkontext nicht rosig aus. Mathematik kann aktuell auf stolze 34 Millionen Einträge verweisen, Deutsch als Fremdsprache auf immerhin 10,5 Millionen, Geschichte dagegen nur auf blasse 3,3 Millionen Einträge. Dies verwundert, ist doch die Frage, ob man aus der Geschichte lernen soll und kann, eine immer wiederkehrende. Gerade in diesen Tagen (Corona, Migrationsthemen, kulturell/religiös/ethnisch/politisch geprägte Besitzstandsfragen etwa in Favoriten) können Blicke in die Geschichte erklärend und damit hilfreich, weil aggressionsminimierend sein.

Schwierige Quellennutzung

Selten, aber doch immer wieder werden Klagen darüber laut, dass Österreich mit seinen historischen Quellen - namentlich mit jenen, die die Entwicklung der Habsburger-Monarchie betreffen - einen Umgang pflegt, der die Nutzung dieser Quellen schwierig macht. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Anschauung, man könnte aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen, offenbar nicht mehrheitsfähig ist. Zum Begriff "Zukunft" liefert Google aktuell satte 182 Millionen Treffer, für "Vergangenheit" hingegen schmale 56 Millionen. In Anbetracht des Faktums, dass die Vergangenheit milliardenfach erlebt worden ist, wir von der Zukunft aber genau gar nichts mit Sicherheit wissen, ist dies ein eklatantes Missverhältnis. Der Begriff "Staatsreform" bringt es bei Google auf immerhin 126 Millionen Einträge. Dies ist als Hinweis darauf zu werten, dass offenbar nicht nur in Österreich das staatliche Reformieren ein Dauerthema ist.

Das politische Reformieren ist eine Materie, bei der sich Blicke in die Vergangenheit durchaus lohnen. Die Befassung mit dieser kann uns die Augen öffnen für Mentalitäten und Traditionen, die vor Jahrhunderten grundgelegt worden sind und unser Fühlen, Denken und Handeln teils heute noch prägen. So sind etwa im Mühlviertel die Bauernkriege des 16. und 17. Jahrhunderts im Bewusstsein vieler Bewohner noch höchst lebendig. Regionen, in denen die Gegenreformation besonders heftig wirkte, fühlen sich auch heute noch von diesen Ereignissen geprägt. Vergangenheit ist eben niemals "nur" Vergangenheit, sondern stets auch Gegenwart und Zukunft.

Wie sieht die Politik die Rolle der Geschichte für die Gegenwart und für die Zukunft? Die an der Universität Edinburgh lehrende und forschende österreichische Historikerin Anna Pultar hat namhafte heimische Politiker über ihr Verhältnis zur Vergangenheit befragt. "Wir blicken lieber in die Zukunft", lautete die häufigste Antwort. In der Einschätzung vieler ist die Vergangenheit offenbar nur etwas für blutleere Archivwürmer und Erzkonservative.

Schulpflicht und Turnstunde

Die tiefgreifendste, auch nach modernen Maßstäben erfolgreichste Staatsreform der österreichischen Geschichte war der von Maria Theresia angestoßene, in großen Teilen von Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg durchgeführte Umbau der Verwaltungsstruktur des Habsburger-Reiches, in dessen Folge 1774 auch die Unterrichtspflicht - eine aus heutiger Sicht in Anbetracht der Ausdehnung der Habsburger-Monarchie und der prekären damaligen Kommunikationssituation eine Respekt gebietende Erfolgsgeschichte. Natürlich brauchte es teils Jahrzehnte, bis Verordnungen auch im letzten Winkel der Monarchie wirksam wurden.

Doch dies ist heute - allerdings unnötigerweise - nicht so viel anders. Im Gefolge der für unser Land medaillenlosen Olympischen Sommerspiele in London 2006 bekam Österreich vor mehr als einem Jahrzehnt formal die "tägliche Turnstunde" an allen Schulen - die in der gesetzlich vorgesehenen Form so gut wie nirgends auch wirklich stattfindet. Nicht nur die Kinder werden unterdessen immer bewegungsärmer und übergewichtiger und (wie man heute gesichert weiß) dadurch auch in ihren kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt. Steigende Probleme beim Lesen, Schreiben und Rechnen lassen grüßen.

Die gelungene Implementierung der Schulpflicht ab 1774 war darin begründet, dass alle Grundlagen für dieses Riesenprojekt - also a) der Inhalt (also die Pädagogik), b) die Verwaltung (also auch die Kommunikation), c) die Ressourcen (also die Finanzierung) und d) die klare Beauftragung einer umfassend verantwortlichen Persönlichkeit (nämlich des vom Erzfeind Preußen abgeworbenen, "mit allerhöchsten Vollmachten" ausgestatteten Johann Ignaz von Felbiger) - zeitgleich und synchron aufeinander abgestimmt und unter realistischen allgemeinen Annahmen entwickelt wurden. Aus heutiger Sicht ein überzeugendes Beispiel für ein gelungenes, durchaus modern anmutendes "Change Management", an dem sowohl Kaiserin Maria Theresia als auch Staatskanzler Kaunitz (er war es übrigens, der die bis heute üblichen Ressortministerien schuf) und der die volle Rückendeckung der Monarchin genießende Schulreformer Felbiger, aber auch zigtausende Helfer in den unteren Rängen beteiligt waren. Doch genau diese beispielhafte Synchronität aller erforderlichen Faktoren und Aspekte und die klar personell verortete Verantwortlichkeit sucht man bei heutigen politischen Reformversuchen zu oft vergeblich.

Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Dass die im 18. Jahrhundert in einem auch für heute beispielhaften Reformprozess entwickelte multihierarchische Verwaltungsstruktur in ihren wesentlichen Merkmalen im Schulbereich noch heute besteht, ist mehr als verhängnisvoll. Darüber kann auch die (zu) oft zitierte "Schönheit unserer Bundesverfassung" nicht hinwegtäuschen. Die aktuelle Struktur im Schulsystem war einerseits dem monarchischen Staatssicherheitsdenken - Zensur, Spitzelwesen, "geheime Qualifikation" (die für die Betroffenen nicht einsehbare berufliche und private Beurteilung aller Staatsbediensteten) - geschuldet, andererseits fungierten diese vielen Hierarchiestationen (Monarchin, Hofkanzlei, Länder/Provinzen, Kreise/Bezirke, Gemeinden, kirchliche Instanzen) aufgrund der beschränkten Kommunikationsmittel als damals nötige Verteiler- und Relaisstationen. Diese sind heute nach wie vor größtenteils vorhanden, aber allerspätestens seit der digitalen Kommunikation völlig unnötig, weil sie bremsend und damit behindernd wirken. Und statt die immer noch für eine Monarchie mit zig Millionen Einwohnern ausgelegte Schulverwaltung zu vereinfachen, gab es 2017 mit der Schaffung der Bildungsdirektionen und weiterer untergeordneter Strukturen (aufgrund von geradezu skurrilen Missverständnissen) einen weiteren verhängnisvollen Komplexitätsschub. Eine Maria Theresia würde vermutlich heute recht rasch geeignete Wege finden, um das von ihr geerbte multihierarchische, föderale und mittlerweile dysfunktionale System zu entsorgen und durch ein zeit- und zukunftsgerechtes zu ersetzen.

Nicht erst 1918 ansetzen

Quellen über diese Phase der österreichischen Geschichte gibt es aus dem 18., 19. und dem frühen 20. Jahrhundert. Ein wesentlicher Teil davon ist allerdings dem Genre der "Habsburg-Verherrlichungsliteratur" zuzurechnen, die teils in das "Jetzt-Zeit-Verständnis" übersetzt werden müsste, um heute in der nötigen Differenziertheit verständlich und damit nutzbringend zu sein. Die professionelle Befassung mit der mariatheresianischen Epoche macht deutlich, wie eng die Fortschritte von Wissenschaft, Technik, Kultur und Gesellschaft - und ganz besonders die Entwicklung demokratischer Systeme ab 1750 bis zum 20. Jahrhundert - mit dem Erwerb der Lese-, Rechen- und Schreibfähigkeit durch breite Bevölkerungsschichten synchron gingen. Immerhin ist der Erwerb dieser Grundkompetenzen die bedeutendste "Schule des Abstraktionskönnens", ohne das es keine Zukunftsfähigkeit gibt, denn Zukunft ist das Abstractum an sich. Unter diesem Blickwinkel ist es auch völlig unverständlich, dass ein offiziöses "Haus der österreichischen Geschichte" erst mit dem Ende der Monarchie 1918 startet. Dies ist eine unakzeptable Förderung der Geschichtsvergessenheit und der zukunftsbezogenen Orientierungslosigkeit.