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Wahrheiten über Wertfreiheit

Von Jakob Kapeller

Gastkommentare
Jakob Kapeller ist Professor für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen, Leiter des Instituts für die Gesamtanalyse der Wirtschaft an der Johannes Kepler Universität Linz und Mitglied des Advisory Boards des Momentum Instituts.
© Frank Preuss

Eine Replik auf den Gastkommentar "Werte, Wahrheit, Wirtschaftsforschung" von Harald Oberhofer.


Werturteilsfreiheit ist in der Tat eine zentrale Qualitätsdimension in wissenschaftlichen Diskursen. Tatsächlich sind dennoch Werte und Werthaltungen immanenter Teil von Wissenschaft. Wer meint, Max Webers Wertfreiheitspostulat - das im Übrigen ja selbst eine Werthaltung zum Ausdruck bringt - würde bedeuten, dass Werte in der Wissenschaft nichts verloren hätten, hat weder das Wertfreiheitspostulat noch den eigentlichen Charakter der Wissenschaft verstanden.

Persönliche Werthaltungen und politische Herausforderungen spielen in wissenschaftlichen Kontexten etwa dann eine zentrale Rolle, wenn es um die Wahl möglicher Forschungsfragen geht. Natürlich entsteht der Fokus vieler Naturwissenschafter auf Klimawandel und Nachhaltigkeit aus persönlichen Werthaltungen und politischen Motivationen. Dies steht auch gar nicht im Widerspruch zur Weberschen These - wichtig ist Weber bloß, dass die entsprechende Analyse auch neutral ausfällt, also sich nicht plump an vorher vorhandenen Werthaltungen orientiert, sondern faktengerecht und methodisch nachvollziehbar ausgeführt wird.

Ebenso ist klar, dass auch die Wirtschaftswissenschaft von solchen "normativen" Überlegungen nicht frei ist. Im Gegenteil: Moderne ökonomische Theorie ist oftmals einseitig fokussiert auf Fragen der Effizienz, die alternative normative Bezugspunkte wie Gerechtigkeit, (Voll-)Beschäftigung, Naturbewahrung oder Menschenrechte alleine durch diesen Fokus in den Hintergrund rücken oder überhaupt ausblenden. Besonders sichtbar ist dies etwa bei der Definition des Bruttoinlandsprodukts: Es gibt keine wertneutrale Begründung dafür, die Produktion von Waffen oder krebserregenden Pestiziden zum Wohlstand der Nation zu zählen, die tausenden, großteils von Frauen verrichteten, unbezahlten Arbeitsstunden in Haushalt, Kindererziehung und Pflege aber einfach auszublenden. Es gibt auch keine wertneutrale Begründung dafür, den Reichtum eines Landes rein über die Summe der Einkommen zu definieren, ohne jemals danach zu fragen, wie diese Einkommen eigentlich verteilt sind. Und es gibt auch keinen wertneutralen Weg, eine optimale Klimaerwärmung von
3 Grad Celsius zu errechnen, wofür man in der Ökonomie immerhin einen "Nobelpreis" bekommen kann.

Vielmehr braucht es normative Annahmen, um den Wert eines intakten Planeten in 50 oder 100 Jahren zu bestimmen. Und da Ökonomen sich meist dazu entscheiden, die menschliche Ungeduld zum zentralen Wertmaßstab zu erheben (Konsum heute ist demnach immer besser als Konsum morgen), ist so ein intakter Planet in 100 Jahren in der entsprechenden Rechnung halt nicht besonders viel wert. Diese Beispiele zeigen, dass in vielen Fällen und gerade in den Wirtschaftswissenschaften nicht nur die Auswahl der Forschungsfrage, sondern der ganze Forschungsprozess - also die Wahl von Messkategorien (etwa das BIP), Analysemethoden (etwa Annahmen über Präferenzen) oder auch Theorien - von Werthaltungen oder von wertbasierten Entscheidungen geprägt ist.

Wer also meint, Forschung sei komplett "wertfrei", irrt entweder oder argumentiert verlogen. Zweiteres kann dann passieren, wenn man sich gerne als ultimativ neutrale Instanz inszeniert, deren Existenz fern jedes politischen Geplänkels unbefleckt im Elfenbeinturm schwebt.