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Eine bewegte Staatsgeschichte

Von Manfried Welan

Gastkommentare
Manfried Welan ist seit 50 Jahren Verfassungspolitologe. Er war unter anderem in den 1980er Jahren Gemeinderat und Landtagsabgeordneter der ÖVP in Wien, Stadtrat und Dritter Landtagspräsident.
© Christoph Gruber | c.gruber@boku

Österreich erlebte im 20. Jahrhundert fünf Systemwechsel: 1918, 1933/34, 1938, 1945 und 1995.


Die herrschende Ansicht nimmt ab dem Beginn der Republik am 30. Oktober 1918 bis heute eine Kontinuität unseres Staatswesens an. Die Jahre 1933 bis 1945 werden freilich davon ausgenommen. "Politologisch ist dieser Befund aber nicht haltbar, weil sich allein zwischen 1918 und 1930 drei, wenn nicht vier unterschiedliche Regierungssysteme etablierten: die radikale Parlamentsherrschaft 1918, die rein parlamentarische Republik 1919, die föderale Republik (Bundesstaat) 1920 und das parlamentarische System mit Zügen der Präsidialrepublik und einer gestärkten Exekutive ab Dezember 1929 (beziehungsweise 1. Jänner 1930)", hat der Staatsrechtsexperte Gerhard Strejcek festgestellt. Aber die zuletzt genannten, durchaus unterschiedlichen Regierungssysteme werden nicht als Systemwechsel wahrgenommen, und es gab nicht einmal 1929 eine Volksabstimmung, obwohl man durchaus eine Gesamtänderung der Verfassung in der Novelle 1929 erkennen könnte, die weitgehend der Weimarer Verfassung folgte.

1918 - die Erfüllungder Revolution 1848

Fast alle Systemwechsel bildeten sich im Recht ab, nicht immer als neue Verfassungen, meist aber durch Änderung der Führung des Staates und Austausch der Eliten. Meine Großeltern erzählten mir viel von der Monarchie und vom großen Zusammenbruch 1918. Sie sprachen vom Umbruch. 1934 und 1938 waren für sie "Umstürze", für 1945 hatten sie keinen Begriff, 1955 war für sie "eine Befreiung". Von einer "Revolution" sprachen sie nie, obwohl rein rechtlich jedenfalls der Systemwechsel 1918 als Revolution zu deuten ist. Für Sozialdemokraten war und ist es eine wahre Revolution. Der Beschluss vom 30. Oktober 1918, mit dem die provisorische Nationalversammlung die Staatsgeschäfte und damit formell die Regierungsgewalt übernahm, machte durch die Nicht-Anknüpfung an die alte Verfassung klar, dass eine Revolution da war. Die Erklärung Kaiser Karls vom 11. November 1918, "auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften zu verzichten" und sich im Vorhinein mit jeder Lösung einverstanden zu erklären, konnte geradezu als eine "Selbstvernichtung" der Monarchie gedeutet werden.

Die neu gegründete Republik Deutsch-Österreich beschloss gleich zu Beginn, Bestandteil der Deutschen Republik zu sein. Die Siegermächte zwangen aber dem neu entstandenen Staat den alten und zum Teil verhassten Namen Österreich auf. Sie verboten den Anschluss an die Deutsche Republik. Sie akzeptierten auch nicht, dass sich der neue Staat in Bezug auf den Weltkrieg als quasi neutral verstand. Das war eine Art Oktroy für den neuen Kleinstaat.

Allerdings kam das Wichtigste - die Schaffung einer demokratischen Republik und die Abschaffung des Monarchen und der Monarchie - von innen: Das war die Erfüllung der Revolution 1848. Im Sinne der Revolutionserfüllung heißt es auch bei der Beschlussfassung der Bundesverfassung 1920 im Verfassungsausschuss: "Wir haben einhellig festgestellt, dass die Verfassung für immerwährende Zeiten die demokratische Grundlage festhalten muss." Und heute gilt diese Feststellung erst recht auch für die Zukunft.

Umsturz 1934: Alles Rechtgeht von Gott aus

Aber schon 14 Jahre später fand ein Umsturz statt. Der Bundesstaat Österreich mit ständisch-autoritärer Verfassung wurde mit Gewalt etabliert. Während das Recht der Republik Österreich nach der Verfassung von 1920 vom Volk ausgeht, ging nach der Verfassung 1934 alles Recht von Gott aus. Eine kleine Diktatur ohne Legitimation glaubte, die große Hitler-Diktatur abhalten oder abwehren zu können.

Der "Anschluss" 1938 -eine Geschichtslegende

Der große und völkerrechtswidrige Systemwechsel fand 1938 mit Billigung der Bevölkerungsmehrheit statt. Österreich wurde als Ostmark Bestandteil des Deutschen Reiches. Der Vorgang wird von einigen als Annexion, von den meisten als Okkupation qualifiziert. Das Erste bedeutet, dass Österreich untergegangen war, das Zweite bedeutet ein Ruhen. Der Staatsrechtslehrer Adolf Merkl hat jedenfalls den "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich aufgrund einer Rechtsanalyse als Geschichtslegende charakterisiert. Wie 1934 lässt sich auch 1938 eine Diskontinuität feststellen, sodass man beide Vorgänge als Revolutionen im Rechtssinne bezeichnen kann.

Was die Systemwechsel 1919 und 1945 unterscheidet

Das gilt auch für den nächsten Systemwechsel, der 1945 durch die Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs am 27. April erfolgte. Sie war die erste Verfassung nach dem Zweiten Weltkrieg und ein revolutionärer Akt gegenüber dem Deutschen Reich und gegenüber der österreichischen Vergangenheit. In ihr wurde zum ersten Mal die österreichische Staatsidee im Sinne einer unabhängigen und demokratischen Republik fest- und grundgelegt. Sie war die österreichische Konsequenz aus der "Austrian Declaration" der Moskauer Konferenz 1943. Die Alliierten stellten damals fest, dass Österreich als erstes freies Land der Aggression Adolf Hitlers zum Opfer gefallen war und von deutscher Herrschaft befreit werden sollte. Die Republik Österreich sollte befreit, das Deutsche Reich sollte besiegt und beseitigt werden.

Vergleicht man diese erste Verfassung nach dem Zweiten Weltkrieg mit der ersten Verfassung nach dem Ersten Weltkrieg, wird klar: Damals wollte der neue Staat nicht Österreich heißen, sondern Deutsch-Österreich, und er wollte Bestandteil der Deutschen Republik sein. Die Bejahung der Selbständigkeit war also 1945 ein grundsätzlich neuer Systemwechsel. Was 1919 als oktroyiert und negativ empfunden wurde, wurde 1945 positiv empfunden und bejaht. Dies führte zu einem historischen Kompromiss der großen Parteien unter Einschluss der Kommunisten.

Gegen den ausdrücklichen Willen der alliierten Mächte und im Gegensatz zu allen anderen Staaten gab sich die neue Staatsführung aber keine neue Verfassung, sondern kehrte in die alte, nämlich in die Verfassung 1920 in der Fassung von 1929, zurück. So hat Österreich eine der ältesten Verfassungen Europas. Ernst Bruckmüller hat hier von einem "Rückbruch" gesprochen.

Eine der stabilstenDemokratien der Welt

Vieles ist dem Genie Karl Renners zu verdanken, auch die Bezeichnungen Erste und Zweite Republik, die nirgends verfassungsmäßig festgelegt sind. Sie haben sich in der politischen Umgangssprache eingebürgert und machen Sinn. Die Erste Republik ist gescheitert, die Zweite Republik war gescheiter: Sie konkretisierte die Verfassung ganz anders als die Erste Republik und wurde zu einer der stabilsten Demokratien der Welt.

Brachte der Staatsvertrag 1955 einen Systemwechsel? Vielleicht für jene, für die er eine bestimmte Demokratie brachte, nämlich ein streitbare, aber die war schon 1945 beschlossen worden. Brachte der Beschluss über die dauernde Neutralität einen Systemwechsel? Bedeutete die immerwährende Neutralität nicht eine Gesamtänderung der Bundesverfassung? Aber eine Volksabstimmung fand auch hier nicht statt, obwohl Österreich für manche nur eine Semi-Souveränität erlangt hatte. Auch 1918 und in der Folge hat es keine Volksabstimmung gegeben, obwohl sie von manchen erwartet worden wäre. Insbesondere hatte sich die Christlichsoziale Partei in diesem Sinn - es ging um Monarchie oder Republik - festgelegt. Aber eine Volksabstimmung fand nicht statt, auch nicht die 1938 von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg geplante. Hitler ließ eine Volksabstimmung durchführen, die diesen Namen aber nicht verdiente.

Keine Volksabstimmungüber Staatsverträge

Eine Volksabstimmung erfolgte erst 1994 vor dem Beitritt zur Europäischen Union. Dieser wurde ein gutes Stück Souveränität übertragen und auf diese Weise fand ein Systemwandel statt, der von manchen bis heute nicht verstanden wird. Damals wurde auch vielen bewusst, dass es bei uns noch immer keine Volksabstimmung über Staatsverträge gibt. Man muss und musste erst den Umweg über ein Gesetz machen.

Jeder Systemwechsel betraf das ganze Land und das ganze Volk. Jeder hat seine eigene Biografie. Und immer ging und geht es um Österreich. Diese Systemwechsel, die wenige im Einzelnen kennen, wenn auch über jeden Bücher geschrieben wurden, sind Anlass zum Nachdenken: Was ist aus Österreich geworden? Was könnte aus Österreich noch werden? Was ist Österreich? Die Revolution 1848 war die Geburtsstunde von Demokratie und Verfassung in Österreich. Die Geschichte hat uns mehr Demokratie und mehr Freiheit und Gleichheit gebracht, sie hat uns auch mehr Wahrheit gebracht. Versuchen wir den Weg der Wahrheit, jedenfalls in der Wissenschaft, und den Weg der Gerechtigkeit in der Politik zu gehen.