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Verteidigungspolitik "so als ob"?

Von Roland Vogel

Gastkommentare

Die Politik nimmt seit jeher die Landesverteidigung nicht ernst.


Berichte über eine umstrittene "Vision 2020" haben vor kurzem heftige Kritik hervorgerufen. Das Papier, von einem Beraterstab im Verteidigungsministerium erstellt, würde im Grunde den Abschied von der militärischen Landesverteidigung Österreichs und die Reduzierung des Bundesheeres auf Katastrophenschutz, Assistenzeinsätze und kleine Auslandseinsätze bedeuten, keine Rede mehr vom notwendigen Nachholbedarf wegen Versäumnissen in der Vergangenheit. Die Kritik lautet zusammengefasst: Die Politik nimmt seit jeher die Landesverteidigung nicht ernst, sie betreibt sie schon immer nur "so als ob".

Dieser Vorwurf wiegt schwer. "Ich gelobe, mein Vaterland, die Republik Österreich (. . .) mit der Waffe zu verteidigen." Seit Bestehen des Bundesheeres haben etwa 1,3 Millionen Männer, seit 1998 auch Frauen ihr Treuegelöbnis zur Verteidigung Österreichs abgelegt - für "so als ob"? Österreichische Steuerzahler haben seit 1956 geschätzte 90 Milliarden Euro für die militärische Landesverteidigung bezahlt - für "so als ob"? Wenn das wirklich so wäre, dann wäre dies eine Ungeheuerlichkeit.

Sich an dem Beraterstab und der verantwortlichen Verteidigungsministerin abzuarbeiten, ist zu kurz gegriffen, gab es doch bereits Vorgänger von Klaudia Tanner, die das Bundesheer geschädigt haben. Von einem sagt selbst sein Parteifreund Robert Lichal, er habe "die Miliz umgebracht", ein anderer ließ die Wehrpflicht in Stein meißeln, um kurz darauf für eine Berufsarmee einzutreten und das Bundesheer kaputtzusparen. Die jetzige Situation ist das Ergebnis jahrzehntelanger Versäumnisse, daher ist es angebracht zu hinterfragen, ob dieser ungeheure Vorwurf stimmt. Und da stößt man auf eine Reihe militärischer Baustellen.

Baustelle Wehrdienstzeit

1955: Aufstellung des Bundesheeres, dem die ganze Ausrüstung de facto geschenkt wird. Die SPÖ ist für sechs Monate Wehrdienst, die ÖVP für zwölf, der Kompromiss lautet schließlich neun Monate.

1961: Otto Rösch (SPÖ), Staatssekretär im Verteidigungsministerium, fordert eine Verkürzung auf sieben Monate, später auf sechseinhalb Monate mit Waffenübungen.

1964: Hans Thirring (SPÖ) fordert die Abschaffung des Bundesheeres.

1970: Wahlkampfslogan der SPÖ: "Sechs Monate sind genug."

1971: Der Grundwehrdienst wird auf sechs Monate reduziert, mit 60 Tagen Waffenübungen.

1990: SPÖ-Zentralsekretär Peter Marizzi fordert eine Wehrdienstverkürzung auf drei bis vier Monate.

2005: Verteidigungsminister Günther Platter (ÖVP) verfügt vor der Nationalratswahl, dass der Wehrdienst künftig sechs Monate dauert und die Truppenübungen abgeschafft werden.

2010: Verteidigungsminister Norbert Darabos (SPÖ) und Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) fordern anlässlich der Wahl zum Wiener Gemeinderat ein Berufsheer. Der Wahlkampfslogan dazu: "Sechs Monate sind zu wenig." (siehe 1970 !)

2013: Volksbefragung zur Abschaffung der Wehrpflicht

Wir lernen: Die politischen Parteien opfern vor Wahlen bedenkenlos staatspolitische Verantwortung ihren Parteiinteressen. Fazit: "So als ob" trifft leider zu.

Baustelle Budget

Jedes Budget stellt die in Geld ausgedrückte Umsetzung des politischen Willens dar. Die Auswirkung der Budgetentwicklung wird im Bericht von Ex-Verteidigungsminister Thomas Starlinger "Unser Heer 2030 - Die Antwort auf künftige Bedrohungen" klar dargestellt. Bis dato ist ein Investitionsrückstau von 12 Milliarden Euro entstanden. Als Notwendigkeit zur Wiederherstellung eines verfassungskonformen Zustandes des Bundesheeres wird 1 Prozent des BIP abgeleitet. Der bisherige Höchststand des Heeresbudgets wurde 1985 mit 1,19 Prozent des BIP erreicht, danach ging es kontinuierlich bergab. Derzeit sind es 0,64 Prozent. Die Aussage, es handle sich um das höchste Budget in der Geschichte des Bundesheeres, ist falsch. Für 2021 und 2022 ist eine weitere Verminderung auf 0,54 Prozent in Aussicht. Der durchschnittliche Anteil der Landesverteidigungsausgaben in der EU liegt bei 1,4 Prozent des BIP.

Wir lernen: Entgegen bei Angelobungen gehaltenen Reden von Politikern über die Wichtigkeit der Landesverteidigung werden die erforderlichen Mittel nicht zur Verfügung gestellt. Fazit: Das ist nicht einmal mehr "so als ob", das ist in Zahlen ausgedrücktes "nicht wollen".

Baustelle Miliz

Mit der Abschaffung der Truppenübungen nach dem Grundwehrdienst 2005 wurden ein erfolgreicher Aufbau der Miliz schlagartig beendet, eine planbare Auffüllung von Einheiten der Miliz unmöglich gemacht, eine kurzfristige Erfolgsstory des Bundesheeres ohne Alternativkonzept zerstört. Die erstmalige Einberufung von Milizsoldaten zur Bewältigung der Pandemie im Jahr 2020 war ein mutiger Schritt, hat jedoch auch Probleme aufgezeigt. Den Milizsoldaten aller Dienstgrade, die der Einberufung gefolgt sind, darf große Anerkennung für ihren Einsatz gezollt werden. Wenn jetzt die Bedeutung und die Stärkung der Miliz betont werden, so gibt es zur Umsetzung zwei Möglichkeiten: Wiedereinführung von verpflichtenden Truppenübungen oder Freiwilligkeit verbunden mit entsprechendem Anreiz. Der Aufbau kompakter einsatzfähiger Milizeinheiten wäre ein wichtiges Vorhaben.

Wir lernen: Bestehende, gut funktionierende Strukturen zu zerstören, geht über Nacht. Sie wieder aufzubauen, ist ein Prozess von Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Fazit: Viel Gutes ist zerstört worden, Lösungen sind nicht in Sicht.

Baustelle Umfassende Landesverteidigung

Darunter ist ein breiter, umfassender Begriff der Selbstbehauptung als Antwort auf ein breites Spektrum an Bedrohungen zu verstehen. Militärische Landesverteidigung ist darin ein integrierter Teil. Schon frühzeitig wählte man diesen integrativen Ansatz. 1961 gibt es den ersten Ministerratsbeschluss zur Umfassenden Landesverteidigung, es werden die Teilbereiche militärische, geistige, zivile und wirtschaftliche Landesverteidigung definiert. Im Bundeskanzleramt wird eine entsprechende Koordinierungsstelle eingerichtet, die bei Bedarf den Kern eines Krisenstabes bildet.

1975 wird das Bekenntnis zur Umfassenden Landesverteidigung in der Verfassung im Artikel 9a verankert, die Erarbeitung eines Landesverteidigungsplanes wird beschlossen. Nach dieser kreativen Aufbauphase folgt ab den 1990ern eine kontinuierliche Verdrängung, die Koordinierungsstelle wird aus dem Bundeskanzleramt entfernt, die Umfassende Landesverteidigung in Politik und Gesellschaft kaum noch wahrgenommen.

Wir lernen: Es wurde viel aufgebaut und danach wieder verdrängt. Die Migrationswelle 2015 und die Pandemiewelle 2020 waren Weckrufe. Fazit: Nicht einmal "so als ob".

Baustelle Landesverteidigungsplan

1983 beschließt die Bundesregierung den Landesverteidigungsplan. Es ist das bisher einzige Dokument, das in Übereinstimmung von politischer Führung und Experten aus allen Teilbereichen der Umfassenden Landesverteidigung im Einvernehmen erstellt worden ist. Im militärischen Teil sieht es den Aufbau einer zahlenmäßig starken Miliz vor. In der Folge wird bis zum Ende der 1980er Jahre eine Stärke des Bundesheeres von mehr als 200.000 Mann erreicht. "Der Landesverteidigungsplan ist der sichtbare Ausdruck dafür, wie ernst es uns ist mit dem Eintreten für unsere Werte, für Demokratie und Freiheit, für ein Leben in Sicherheit und Freiheit", erklärt Bundeskanzler Fred Sinowatz (SPÖ) im Jahr 1985.

Obwohl mitbeschlossen wird, den Landesverteidigungsplan entsprechend den Änderungen der Lage zu überarbeiten, erfolgt dies nicht. Spätestens nach der Neuordnung der politischen Landschaft in Europa nach 1989 wäre dies erforderlich. Er wird auch formal nie außer Kraft gesetzt, sondern ignoriert. Die Auswirkung dieser sicherheitspolitischen Todsünde ist die heutige Lage der militärischen Landesverteidigung. 2013 wird die Österreichische Sicherheitsstrategie im Nationalrat beschlossen. Daraus abzuleitende Planungen stehen bis heute aus. Wozu wurde sie überhaupt beschlossen? "So als ob"?

Wir lernen: Die Ausnahme Landesverteidigungsplan war bisher die einzige ernstzunehmende "tun, was notwendig ist"-Bemühung und hatte als Voraussetzung eine einvernehmliche Haltung der politischen Parteien zur Landesverteidigung.

Abschließender Appell an die Verantwortlichen

Macht Schluss mit einer Verteidigungspolitik "so als ob"! Findet zu gemeinsamer parteiübergreifender Verantwortung, damit die Sicherheit der Österreicherinnen und Österreicher künftig wieder gewährleistet ist! Wer sich verteidigen kann, der kann auch helfen. Wer nur helfen kann, kann Gefahren nicht abhalten und sich auch nicht verteidigen.