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Die respektvolle Gesellschaft und ihre Feinde

Von Zoltan Peter

Gastkommentare

Völlige Offenheit ist genauso problematisch wie Kulturverschlossenheit.


Allein die in den vergangenen Wochen aufgeflammten Debatten, in denen es um so große Begriffe wie "Identität" und "Rassismus" ging, liefern mehr als genug Anlass für Kommentare. Der "Rassismus", um nur einen der Begriffe aufzugreifen, habe - so der mediale Tenor - selbst in den pluralistischen Demokratien Europas eine gewisse "Struktur", heißt es, und ausgerechnet unter den Lehrkräften sei er ausgeprägter, als man ahnen würde. Und all das sei hierzulande genauso schlimm wie anderorts, wenn nicht sogar schlimmer (siehe dazu etwa den Kommentar "Der Rassismus der Lehrpersonen: kein Einzelfall" der Journalistin Melisa Erkurt im "Falter" vom 29. Juli oder das Interview "Mehmed wird anders benotet als Max" mit ihr in der "Wiener Zeitung" vom 21. August beziehungsweise die MeToo-Diskussion insgesamt).

Man fragt sich: Auf welcher Grundlage werden solche Behauptungen getroffen? Denn ausreichende Erkenntnisse gibt es über den angeblichen Rassismus der Lehrkräfte meines Wissens nicht. Freilich kommt es zu diversen Konflikten und Ungerechtigkeiten auch in der heutigen Schule. Und selbstverständlich ist bereits ein einziger Diskriminierungsfall seitens der Lehrkräfte einer zu viel. Doch ausgehend von ungesicherten Meinungen und einigen ungeklärten Fällen, die bisher bekannt geworden sind, gleich einen systematischen Rassismus in den öffentlichen Schulen Österreichs erkennen zu wollen, wie dies in den zitierten Kommentaren getan wird, ist als subjektiv und sehr problematisch zu sehen.

Kürzlich wurden von uns einige zum Thema passende Einstellungen von 455 Schülern und Schülerinnen an drei Wiener Schulen vergleichend ermittelt. An dieser Stelle sind zwei Aspekte zu betonen: Rund 75 Prozent der Jugendlichen lassen sich als tolerant bezeichnen. Sie orientieren sich bei ihren Ablehnungen an den bestehenden demokratischen Spielregeln. Die Hälfte der Befragten ist in ihrer Einstellung überhaupt sehr großzügig, wertschätzend und multikulturalistisch. So stimmen 14,3 der Befragten voll und 35 Prozent eher den folgenden Aussagen zu: "Ich schätze die Vielfalt von Lebensstilen, Kulturen und Religionen in Österreich." Sowie: "Die verschiedenen Lebensweisen von Minderheiten/Einwanderern in Österreich bereichern uns." Die Toleranzweise der restlichen Befragten kann hingegen weder als multikulturell noch als besonders liberal bezeichnet werden. Sie stimmen der Aussage voll zu: "Solange sie unsere traditionelle Lebensweise nicht beeinträchtigen, dürfen Minderheiten/Einwanderer in Österreich so leben, wie es ihnen passt."

Starker Mangel an Offenheit und Toleranz bei 5 Prozent

Weiteren Ergebnissen zufolge zeichnen sich 5 Prozent aller bislang untersuchten Jugendlichen (bei 1.700 Befragten) durch einen starken und zirka 20 Prozent durch einen mäßigen Mangel an Offenheit und Toleranz aus. Darunter findet man Jugendliche, die bedeutende antisemitische, fremdenfeindliche und fundamentalistische Einstellungen haben.

Demnach könnte man etwa der Meinung sein, dass der 5-prozentige Anteil nicht besorgniserregend hoch ist. Doch unter anderem aufgrund eines bestehenden Zusammenhanges zwischen Offenheit, Toleranz und Bildungsniveau könnte es schnell passieren, dass manche Schulen nicht nur verhältnismäßig viele Jugendliche besuchen, deren schulische Leistung gering ist, sondern zugleich auch solche, die besonders intolerant sind. Sollte es also Schulen geben, an denen nicht eine kleine Minderheit, sondern mehrere Jugendliche die zitierten Einstellungen aufweisen, so sind die Bedingungen für ein respektvolles und friedliches Miteinander dort als nicht gegeben zu betrachten. Es bedarf wohl keiner besonderen Hellsicht, um zu sehen, dass in einer solchen Schule ein Normalunterricht kaum möglich wäre und bald jede Lehrkraft schlichtweg versagen würde.

Die Auswertung beziehungsweise Erhebung der Einstellungen der Lehrerkräfte, um die es hier eigentlich gehen sollte, ist unserseits allerdings noch ausständig. Es darf jedoch schon allein aufgrund ihrer Qualifikation, Lebenserfahrung und des bestehenden positiven Zusammenhangs zwischen Offenheit und kulturellem Kapital, also ihrer höheren Kulturbeflissenheit, wohl angenommen werden, dass sie signifikant weniger Vorurteile haben und besonders in den Bereichen der Respekt- und der multikulturalistischen Toleranz höhere Messwerte erzielen als ihre Schüler und Schülerinnen. Wenn auf der Ebene der Einstellung der Lehrkräfte etwas Systematisches zu vermuten ist, so ist dies daher im Bereich des Umgangs mit der kulturellen und religiösen Vielfalt zu suchen. Und dies weniger in den vorurteilsvollen Reaktionen auf die Vielfalt, sondern im Gegenteil, in der Schwierigkeit und Unsicherheit des Grenzenziehens zwischen demokratisch vertretbaren und unvertretbaren Handlungen.

Familie ist wichtiger als Migrationshintergrund

Der Migrationshintergrund ist ein sehr allgemeines und unscharfes Merkmal. Oft ist er nicht der Rede wert, da er als Kategorie zu pauschal ist. Es ist deshalb von großer Bedeutung, auch andere Variablen zu berücksichtigen, die alternative Varianten der Differenzierung und Gruppenzuteilung ermöglichen. So kommt etwa der Familie in jedem Gesellschaftssystem eine besondere Bedeutung zu. Sie ist eine Instanz mit einer besonderen Filterfunktion: Sie kann äußere Einflüsse, die auf den Mikrokosmos Familie einwirken, aufhalten oder zulassen. Dort, wo die Familie das Eindringen demokratischer, weltoffener Klassifizierungsweisen des Systems in das Bewusstsein der Kinder erlaubt oder fördert, ist die Chance auf die Entwicklung offener und toleranter Werthaltungen selbstverständlich um einiges größer als im gegensätzlichen Fall.

Gerade in Zeiten, in denen die Schule ihren ausgleichenden Einfluss maßgeblich einbüßt, wie in den Sommerferien oder durch die derzeitige Epidemie bedingt, kristallisieren sich die Rollen und das Gewicht der Lehrkräfte und jene der Eltern in aller Deutlichkeit heraus. Müssen Kinder nicht in die Schule, so wächst der familiäre gegenüber dem schulischen Einfluss Tag für Tag. Und das kann für die Kinder weniger bis sehr kontraproduktiv ausfallen, je nach familiärer Situation. Leben die Kinder beispielsweise in familiären Umständen, in denen regelmäßig gegen die schulische Pädagogik gewettert wird, so bleibt dies für sie nicht ohne Folgen.

Ja, es gibt auch angebrachte Kritik an der Schule. Geht es um das schulische Zusammenleben, so tragen zu dessen Gelingen nicht nur die beteiligten Personen mit ihren jeweiligen Einstellungen bei. Der Lernstoff selbst wirkt auch auf das schulische Klima. Dient der Lernstoff bloß zur Anhäufung von einfach quantifizierbaren Bildungskapitalien, damit Schülerinnen und Schüler die Situation der Konkurrenz, der sie nach dem derzeitigen Stand der Dinge im Erwerbsleben ausgesetzt werden, mit Erfolg bewältigen, so ist dies zu einseitig. Für viele ist das frustrierend.

Extreme Einstellungenin der Mitte einpendeln

Es gilt dennoch zu betonen: Neben einer gewissen einseitigen Vorbereitung der Kinder auf einen künftigen, sehr ökonomisch orientierten Wettbewerb wird jedenfalls in den österreichischen Schulen auffallend viel über die Bedingungen einer offenen und toleranten Lebensführung nachgedacht. Doch aktuelle Fragen wie etwa die folgenden haben bisweilen weder in der Schule noch ihrem politischen Umfeld entsprechenden Widerhall gefunden: Wie lässt sich eine gewisse schulische Entfremdung, Unzufriedenheit überwinden? Was sind die wichtigsten Erkenntnisse der Wissenschaft bezüglich der Frage des gelungenen Lebens?

"Feinde" der Schule und einer respektvollen Gesellschaft sind also weder rassistische Lehrkräfte noch Jugendliche mit Migrationshintergrund. Es sind vor allem erstens jene Eltern, Erziehungsberechtigten und alle selbsternannten "Erzieher", die die Kinder gegen die liberale Demokratie indoktrinieren. Jene, die die Freiheit der Kinder aggressiv einschränken und aus ihnen verschlossene und respektlose Menschen machen. Dabei handelt es sich um eine Haltung, die weder auf die Bildung oder die Herkunft noch auf die ökonomische Lage der betreffenden Personen reduziert werden kann. Die Ursachen solcher Indoktrinierungen sind deutlich vielschichtiger und zum Teil noch unbekannt.

"Feinde" der offenen Gesellschaft sind aber zweitens auch jene, die alles tolerieren und von allen und allem begeistert sind, egal, ob der Gegenstand der Begeisterung mit den erzielten demokratischen, kulturellen Errungenschaften der demokratischen Welt, ja eines solchen Weltgeistes in irgendeiner Form kompatibel ist. Jene Kulturverschlossenheit zum einen und die völlige Offenheit zum anderen in den Griff zu bekommen, zu dekonstruieren, das Pendel extremer Einstellungen demnächst in die Mitte zu lenken, wird ohne gezielte Investition in die genannten Bereiche sicher nicht gehen.