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Hat die Pflege (k)eine Stimme?

Von Alexandra Prinz

Gastkommentare

Überlastete Pflegekräfte verlassen reihenweise ihren Beruf. Eine vorgesehene Arbeitsplatzevaluierung findet nicht statt.


Bis vor kurzem hat man die Heldinnen (weibliche Form bewusst gewählt) des Alltags noch beklatscht. Doch nun klatscht man nicht mehr, und die Corona-Prämie wurde nur mit großen Verzögerungen ausgezahlt. Die Pflege wurde wieder einmal verraten und verkauft. Genauso wie bei den vergangenen Kollektivvertragsverhandlungen, die im Frühjahr über Mitternacht im Schatten von Corona wiederholt zu Ungunsten der Pflege endeten.

In den vergangenen Jahren hat man der Pflege zwar immer mehr Kompetenzen zugestanden, ohne sie dafür finanziell zu entschädigen, während die Ärzte für sich eine Arbeitszeitverkürzung bei gleichzeitiger Gehaltserhöhung durchsetzen konnten. Diplomierte Pflegekräfte dürfen qua Gesetz Blutabnahmen durchführen, Magensonden und Venenverweilkanülen setzen, Infusionen bis hin zu Bluttransfusionen durchführen, bekommen dafür aber nicht gemäß der damit verbundenen Verantwortung bezahlt; einer Verantwortung, die - bis vor kurzem noch - nur den Ärzten vorbehalten war. Der Gesetzgeber hat gleichzeitig beschlossen, dass so simple Tätigkeiten wie Blutabnahmen inzwischen auch Pflege- und Ordinationsassistentinnen durchführen dürfen, vor zehn Jahren durften das in der Praxis noch nicht einmal die diplomierten Pflegefachkräfte.

In den Gesetzgebungsprozess waren die Pflegekräfte an der Basis nicht ausreichend eingebunden, der Österreichische Gesundheits- und Krankenpflegeverband (ÖGKV) verfügt nicht über die gleiche Kompetenz wie die Ärztekammer und ist aufgrund der geringen Mitgliederzahl sehr schwach. Für viele Pflegekräfte gilt der ÖGKV nicht als durchsetzungsfähige Organisation, wie auch die Gewerkschaften und die Gesundheit Österreich GmbH für viele Pflegekräfte nicht repräsentativ sind.

Schwache Vertretung

Was ist geschehen? Der seit vielen Jahren immer wieder medial kolportierte und am Bett spürbare Pflegepersonalmangel hat nicht nur aus demografischen Gründen zugenommen. Nun sind im Schatten von Corona auch langjährige Versäumnisse in Bezug auf ausreichend Ausbildungsplätze sowie der Verantwortung würdige Gehälter schlagend. Durch Stress, Überstunden, fehlendes Personal, mangelnde Kompetenz von Vorgesetzten und Mitarbeiterinnen in Bezug auf deren Aufgaben verlassen Pflegekräfte reihenweise den Beruf beziehungsweise können ihn aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben. Eine Arbeitsplatzevaluierung in Bezug auf psychische Belastungen (gültig seit Jänner 2013) findet in den Pflegeberufen nicht statt.

In Österreich gibt es derzeit rund 432.000 Arbeitslose, doch in der Pflege sucht man händeringend Personal und versucht, dieses aus allen Branchen umzuschulen. Man redet von Stipendien und vergisst zugleich, dass es vor allem Frauen und Alleinerziehende seit Jahren schaffen mussten, mit der Hälfte ihres Einkommens (Arbeitslosengeld: 55 Prozent des Letztverdienstes) die Pflegeausbildung zu bestreiten. Sehr zum Nachteil war es in der gesamten Branche, wenn man eine Umschulung in den Pflegeberuf anstrebte und bereits vorher über einen tertiären Abschluss verfügte. Denn Auszubildende, die vor Jahren selbst bereits über eine akademische Ausbildung verfügten, sahen sich nicht selten Vorgesetzten gegenüber, die sich aufgrund langer Dienstjahre und guter Beziehungen, aber selten aufgrund von Qualifikation in der entsprechenden Leitungsposition befanden.

Dass viele Kompetenzen der Pflegekräfte, die man vor zehn Jahren nicht lernen durfte (weil das in Wien Tätigkeiten der Turnusärzte waren), nun aber sogar Pflegeassistenten verrichten dürfen, entbehrt nicht zuletzt einer gewissen Ironie. Die erst in sehr geringer Anzahl präsenten Pflegefachassistenten sollen die diplomierten Pflegefachkräfte weitgehend verdrängen, denn man fürchtet bereits jetzt die verständlichen Gehaltsforderungen der auf Fachhochschulen ausgebildeten hochqualifizierten Fachkräfte, und die Politik hat die größte Angst vor selbstbewussten, sich ihrer Rechte und Fähigkeiten bewussten Pflegekräften.

Der Fauxpas der Pflegekräfte ist, dass sie sich untereinander nicht einig sind, viele Jahre wurden Berufsgruppen und Arbeitgeber gegeneinander ausgespielt. Wer in einem Landeskrankenhaus arbeitete, hatte noch bessere Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten als in den mobilen Pflegediensten. In einem Pflegeheim findet man selten jene Abgängerinnen von Fachhochschulen, die man gerade dort und in den mobilen Diensten am dringendsten brauchen würde, die aber vorzugsweise in ein Krankenhaus gehen, weil sie dort noch am ehesten ihre Qualifikationen ausüben können.

Dabei könnte man zum Wohl der Patienten die Spitalsambulanzen entlasten, um Verbandswechsel oder auch Infusionstherapien ambulant zu Hause durchzuführen. Bei der ambulanten Versorgung hat der Gesetzgeber bedauerlicherweise auf die Möglichkeiten der mobilen Pflege vollkommen vergessen. In den skandinavischen Ländern sowie in der Schweiz werden selbstverständlich Chemotherapien ambulant, das heißt zu Hause durchgeführt. Und vielen ist nicht bekannt, dass auch in Österreich diverse Schmerz- und Infusionstherapien sowie sämtliche Verbandswechsel zu Hause durchgeführt werden können, aber diese Möglichkeit nicht ausreichend genutzt wird.

Verrechnungspartner fehlt

Dies scheitert oft auch an mangelnder Kooperation durch die Hausärzte, denn regelmäßige Hausbesuche sind für eine gute ambulante Versorgung durch diplomierte Pflegefachkräfte eine unabdingbare Voraussetzung. Diese werden von der Kasse allerdings schlecht honoriert, daher macht sie kaum ein Arzt. Daran scheitert zum Nachteil der professionellen mobilen Pflege der Ausbau der ambulanten Versorgung, die sowohl kostengünstiger als auch im Sinne der Patienten wäre.

Im Gesetz ist auch die Freiberuflichkeit der diplomierten Pflegefachkräfte festgeschrieben, allerdings gibt es keinen Verrechnungspartner, da die Sozialversicherungen nur mit einschlägigen Organisationen verrechnen (in Wien ist das der Fonds Soziales Wien, in Niederösterreich und in den meisten Bundesländern verrechnet der Sozialversicherungsträger direkt mit den mobilen Diensten). Eine echte Freiberuflichkeit wie für Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Hebammen ist damit für diplomierte Pflegefachkräfte aufgrund von fehlenden Verrechnungspartnern nicht möglich, obwohl im Gesetz verankert. Dabei wäre eine ambulante wohnortnahe Versorgung durchaus im Sinne der Patienten, die sich berechtigt fragen, warum sie zwar in den Sozialversicherungstopf einzahlen, aber mitunter nicht die gewünschte Versorgung erhalten (eine Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin (DGKP) macht zu Hause den Verbandswechsel statt stundenlanger Wartezeit in einer Ordination oder einer Ambulanz, das Gleiche gilt für Katheterwechsel oder Infusionstherapien, die vorzugsweise in Arztpraxen durchgeführt werden).

Pflegekräfte sollten in allen Qualitätszirkeln und Bereichen der öffentlichen Gesundheitsversorgung eingebunden sein. Sie haben eine akademische Ausbildung wie Physiotherapeuten und Hebammen auch und werden immer noch bezahlt, als ob sie Handlanger der Ärzte wären ohne ihre Kompetenzen zur ärztlichen Entlastung überhaupt in Anspruch nehmen zu dürfen. Eine eigenständige Verrechnung mit den Sozialversicherungsträgern wird sowohl von Gewerkschaft, Arbeiterkammer und schon gar nicht von der Ärztekammer in Erwägung gezogen. Einen Verrechnungsposten für hochqualifizierte Beratungstätigkeit bezüglich Gesundheitsförderung, Gesundheitsprävention oder Qualitätssicherung gibt es bis heute nicht, obwohl in diversen Handlungsleitlinien von obersten Organen ausgegeben und für die Anerkennung von öffentlich finanzierten Gesundheitseinrichtungen ausschlaggebend.

Am liebsten gratis

Die Politik geht offenbar davon aus, dass Pflegekräfte unentgeltlich, im Namen der Nächstenliebe und solidarisch quasi gratis ihre Arbeit ohne viel Aufsehens machen. Politische Bildung für Pflegekräfte wird weder an Fachhochschulen als Modul noch im Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverband als Weiterbildung angeboten. Die Ärzte verfügen über eine Kammer, die selbstverständlich die Rechte ihrer Berufsgruppe vertritt, der Pflege gesteht man selbiges nicht zu. Die Registrierungspflicht wurde in den jeweiligen Gesundheitseinrichtungen beziehungsweise bei der Arbeiterkammer verankert. Bei Gewerkschaft und Arbeiterkammer favorisiert man Anstellungsverhältnisse, die seit Jahren keine Reallohnerhöhung erfuhren mit dem Verweis auf die jeweilige Regierung, für die Pflegeagenden bis dato keine ernsthafte Angelegenheit darstellten.

Ständig wird nach neuen Pflegekräften gesucht. Mittlerweile wird über die Öffnung des Arbeitsmarktes für Angehörige von Drittstaaten für Mangelberufe nachgedacht. Wer in ein Pflegeheim geht oder sich in den mobilen Diensten umsieht, weiß, welches Bild derzeit herrscht. Unterbesetzungen in Pflegeheimen sind gang und gäbe, eine diplomierte Pflegekraft für 50 Bewohner ist keine Seltenheit. Wer in den mobilen Diensten arbeitet, ist meist noch schlimmer dran, da die Wegzeiten nicht adäquat entgolten werden, und wer im Auto unterwegs ist, erlebt im Sommer schon einmal Temperaturen von 44 Grad im Auto.

Wer sich einen Elektriker ins Haus holt, zahlt einen Stundensatz von ca. 100 Euro, die Wegzeit wird noch extra verrechnet. Wer ein Auto reparieren lässt, wird mitunter noch mehr Geld los. In der Pflege hingegen werden Rechnungen unterschiedlicher Summen gestellt, eine Stunde einer DGKP wird selten mit mehr als 50 Euro abgegolten, davon erhält die Arbeitskraft nur einen Bruchteil, weil mit diesen Stundensätzen auch der gesamte Overhead finanziert werden muss. Eine Transparenz bezüglich einschlägiger Pflegeleistungen gibt es nicht.

Eine Recherche bei der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) ergab, dass man über eine Leistungsverrechnung der medizinischen Hauskrankenpflege (das sind krankenhausersetzende Leistungen, die ausschließlich von diplomierten Pflegefachkräften erbracht werden dürfen wie etwa Wundtherapie, Sondenernährung, Katheterwechsel) keine Auskünfte geben darf, dies unterliege dem Datenschutz. Auf der Homepage der Landesregierung Steiermark, wo die mobile Pflege anders finanziert wird als in Wien, ist transparent der Normkostensatz für diplomierte Pflege mit 86 Euro ausgewiesen. Selbiges fehlt in Wien. Kunden, die von der Stadt öffentlich geförderte Pflege in Anspruch nehmen, erhalten Rechnungen, auf denen ausgewiesen ist, wie viel eine DGKP-Stunde kostet, dies sind jedoch - abhängig vom jeweiligen Pflegedienst - unterschiedliche Beträge und variieren stark. Eine transparente Aufschlüsselung, für alle einsehbar, fehlt.

Auf der Strecke bleibt das Pflegepersonal, das überall fehlt. Eine Pflegekammer gibt es nicht, der ÖGKV hat nicht die gleiche juristische Schlagkraft wie zum Beispiel in Deutschland oder der Schweiz, wo die Mitgliederzahl (des Schweizer Berufsverbands für Krankenpflege) dreimal so hoch wie in Österreich ist. Andererseits fühlen sich Pflegekräfte von ihrem Berufsverband in den ihnen so wichtigen Angelegenheiten auch nicht ausreichend vertreten. Es bleibt die Frage nach einer starken Stimme der Pflege, denn gerade in und nach einer Epidemie und angesichts der wachsenden Herausforderungen durch die demografische Entwicklung wäre das Wissen von Pflegekräften über Hygiene und Gesundheitsprävention (sowie für vieles mehr) gefordert wie nie zuvor.