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Der Nawalny-Faktor

Von Alexander Dubowy

Gastkommentare

Welche Gefahr stellt der Oppositionelle tatsächlich für den Kreml dar?


Am 2. September gab die deutsche Regierung bekannt, dass die toxikologische Untersuchung der Proben Alexej Nawalnys durch ein Speziallabor der Bundeswehr den zweifelsfreien Nachweis eines chemischen Nervenkampfstoffes der Nowitschok-Gruppe erbracht hatte. Neben den noch laufenden Untersuchungen der Organisation für das Verbot chemischer Waffen haben auf Anfrage Deutschlands Speziallabore in Frankreich und Schweden am 14. September den deutschen Nachweis bestätigt.

Zwar mögen der Bekanntheitsgrad Nawalnys sowie seine Umfrage- und Zustimmungswerte als Oppositionspolitiker außerhalb der Großstädte niedrig sein, jedoch ist er nicht nur ein Oppositionspolitiker, sondern auch der wichtigste Investigativjournalist Russlands und etablierte sich, insbesondere unter den jüngeren Generationen, über wenige Jahre zum Symbol des Kampfes gegen Korruption. Ungeachtet zahlreicher Enthüllungen ist Nawalny für den Kreml aber bisher nicht zu einem grundsätzlichen Problem geworden.

Daher scheint sei Tod nicht im direkten Interesse des Kremls zu liegen. Die Heroisierung und der Märtyrerstatus Nawalnys wären für Wladimir Putin ungleich gefährlicher als seine politischen Aktivitäten. Die negativen innen- wie auch außenpolitischen Folgen eines solchen Anschlages, inklusive potenzieller Sanktionen des Westens, würden dabei alle positiven Auswirkungen übersteigen.

Freilich sind stichhaltige Gegenargumente schnell gefunden. In jüngster Zeit hat sich Nawalny insbesondere durch die Strategie des "Smart Voting" hervorgetan, dabei gilt es bei Wahlen für den aussichtsreichsten Kandidaten abzustimmen, der nicht der Kreml-Partei "Einiges Russland" angehört. Diese Strategie hat sich bei den Regionalwahlen nun als erfolgreich erwiesen, in Nowosibirsk und Tomsk haben sogar Nawalny nahestehende Kandidaten gegen Vertreter der Putin-Partei gewonnen. Bei den Parlamentswahlen 2021 hätte "Smart Voting" ernstzunehmendes Potenzial, die mächtige, aber skandalumwitterte Partei in große Bedrängnis zu bringen. Negative Auswirkungen für den Kreml wären garantiert.

In Bezug auf potenzielle westliche Sanktionen ist zu beachten, dass es dazu bei einer erfolgreichen Vergiftung Nawalnys keinen Anlass gegeben hätte. Diese erfolgte im russischen Inland, und die Behörden wären nach seinem Tod alleinige Herren über das Narrativ gewesen. Tatsächlich war sein Überleben einer Verkettung mehrerer günstiger Umstände geschuldet, etwa der schnellen Reaktion des Piloten und des Rettungsarztes. Die Einbindung des westlichen Auslands kam zudem völlig unerwartet.

Die vielen Türme des Kreml

Inwieweit Putin vorab über den geplanten Giftanschlag informiert war oder gar den Auftrag dazu selbst erteilt hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Politisch motivierte Anschläge und Morde auf Oppositionelle und kritische Journalisten wurden in der Vergangenheit niemals gänzlich aufgeklärt. Das Fehlen der Rechtssicherheit in Russland und damit verbunden die mangelnde Aufklärung liegt nach 20 Jahren ununterbrochener Machtausübung in Putins direkter Verantwortung. Ob er nun persönlich den Befehl gab oder nicht, ist letztlich unerheblich. Putin trifft jedenfalls indirekte Schuld.

Dennoch sollte nicht übersehen werden, dass die russische Macht- und Elitenstruktur keinesfalls homogen und durch eine Person gesteuert ist. Der Kreml hat viele Türme, insofern kann die Vergiftung auch durch einflussreiche Vertreter der mächtigen Elitengruppen (etwa Ewgenij Prigoschin, Herr über (Gift-)Küche und private Armeen) mit Hilfe einzelner Geheimdienstler erfolgt sein. Sie könnte aber auch mit Nawalnys jüngsten Investigativaktivitäten zusammenhängen. Vor seiner Vergiftung untersuchte er mutmaßliche kriminelle Machenschaften der Abgeordneten von "Einiges Russland" im Stadtrat von Nowosibirsk.

Diese Überlegungen führen gleich zu zwei unbequemen Wahrheiten über das heutige Russland: Nach treffender Feststellung von Mark Galeotti hat in Russland der politische Mord aufgehört, die alleinige Prärogative des Staates zu sein. Auch scheint die Kontrolle über den Zugriff auf Nervenkampfstoffe nicht ausschließlich der russischen Staatsspitze vorbehalten zu sein.

Quo vadis EU und Russland?

Unabhängig davon, wer den Befehl gab, kann ein Nervenkampfstoff vom Typ Nowitschok nicht in einem beliebigen Army Shop erworben werden. Dies führt zu für den Kreml extrem unangenehmen Fragen nach der Herkunft des Giftes und den Auftraggebern. Nawalnys Vergiftung könnte zu einem zentralen Bestimmungsfaktor für die Beziehungen zwischen Russland und der EU werden, von der Verhängung individueller Sanktionen bis zu einem umfassenden europäischen Pendant zum US-"Magnitsky Act" ist vieles denkbar. Sehr wahrscheinlich bildet die Causa den endgültigen Auslöser für eine tiefe Zäsur, von einer hybriden Entfremdung hin zu einem offenen Konflikt.

Auch die Aufkündigung des umstrittenen, kurz vor Abschluss stehenden europäisch-russischen Prestigeprojektes Nord Stream 2 ist möglich, wenn auch derzeit unwahrscheinlich; scheint diese Pipeline doch im strategischen Interesse Deutschlands zu liegen. Da der nationale wie internationale Druck auf Kanzlerin Angela Merkel mit Blick auf das Projekt enorm ist, dürfte eine sehr harte Position Russland gegenüber im Fall Nawalny als taktische Finte ihre einzige Chance bleiben, Nord Stream 2 abzusichern.

Schleichende Erosion

Was den Verdacht gegenüber den höchsten Entscheidungsträgern im Kreml massiv bestärkt, ist das Verhalten des Kreml selbst. Er lehnt die Notwendigkeit jedweder Ermittlungsschritte ab. Selbst die Tatsache einer Vergiftung Nawalnys leugnen offizielle Stellen. Staatliche und Kreml-nahe Medien verbreiten stattdessen vor unzählige einander widersprechende Versionen (Alkohol-Medikamenten-Mischung, Drogen, Vorerkrankungen, Unterzuckerung, Hitzeschlag etc.).

Mittlerweile werden sogar Verdachtsmomente gegen Deutschland beziehungsweise den Westen geäußert, Nawalny könnte erst in Berlin von westlichen Agenten vergiftet worden sein. Dieses Vorgehen lässt sogar bei loyalsten Putin-Anhängern ernste Zweifel an der Unschuld des Kremls aufkommen und führt zu einer schleichenden Erosion. Auf diese Weise wird Nawalny aus einem minder erfolgreichen und relativ unbekannten Oppositionspolitiker schrittweise zum Symbol für den moralischen Legitimitätsverlust der alternden russischen Führung und zu einem wichtigen Faktor der russischen Innenpolitik.