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Krone des Rechtsstaates

Von Xxx Xxx

Gastkommentare

Hans Kelsens "Souvenir": 100 Jahre Verfassungsgerichtshof.


"Die geschriebene Verfassung repräsentiert den höchsten Triumph des juristischen Erfindungsgeistes", schreibt William Seagle in der "Weltgeschichte des Rechts". Und die Verfassungsgerichtsbarkeit repräsentiert den höchsten Triumph des verfassungspolitischen Erfindungsgeistes, so lernten wir im Studium. Und wir waren stolz, dass diese politische Institution vom kleinen Österreich stammt und 1920 in unsere Verfassung weltweit zum ersten Mal eingebaut wurde.

Das Recht, Verordnungen und sogar Gesetze aufzuheben, ist die bedeutsamste Kompetenz des Verfassungsgerichtshofs (VfGH). Diese Kompetenz gibt ihm nicht nur die Rechtskontrolle über den höchsten Akt der Verwaltung, die Verordnung, sondern sogar über die Akte der Gesetzgebung. Damit ist er ein in der modernen Verfassungsgeschichte einzig dastehendes, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung und die Gesetzmäßigkeit der Vollziehung garantierendes Organ von rechtspolitisch überragender Bedeutung. "Die Kompetenz des Verfassungsgerichtshofes, verfassungswidrige Gesetze aufzuheben, kann als seine höchste angesehen werden, weil er durch sie zu einer Rechtskontrolle über die Gesetzgebung, also die oberste Staatsfunktion, befugt wird." Damit bringen die Kommentatoren der Verfassung, Hans Kelsen, Georg Froehlich und Adolf Merkl, zum Ausdruck, dass der VfGH in der Ausübung der ihm zustehenden Kompetenzen gegenüber Verwaltung und Gesetzgebung, in gewissem Sinne sogar gegenüber der Verfassungsgesetzgebung, das letzte Wort hat.

Ein Gegengewichtzum Parlament

Warum haben die an der Verfassungsgebung beteiligten Parteien und Personen gerade ein Gericht mit der Funktion eines Hüters der Verfassung betraut? Die Präferenz für die Autorität, weil Neutralität des Gerichts, hat eine Rolle gespielt, vor allem aber die Idee vom Supremat der Verfassung. Neben der Funktion als Schiedsrichter in rechtlichen Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern hat der VfGH die Funktion eines Gegengewichts zum Parlament. Wenn Gesetze nicht unmittelbar vom Volk, sondern in Vollziehung der Verfassung von volksgewählten Vertretungskörpern beschlossen werden, sind sie der Verfassung untergeordnete Organe. Daher besteht das Bedürfnis, Vorsorge zu treffen, dass diese die ihnen delegierte Autorität nicht überschreiten.

Die Vorstellung vom Supremat der Verfassung führt also zum Supremat des VfGH. Er misst Gesetze am Maßstab der Verfassung, und wenn sie im Widerspruch zur Verfassung stehen, hebt er sie auf. Als "negativer Gesetzgeber" - er kann ja Gesetze und ihre Bestimmungen nur aufheben, aber nicht verändern - teilt er sich die gesetzgebende Funktion mit dem Parlament. Insofern ist er ein wichtiger Bestandteil der "gemischten Verfassung" zur Mäßigung von Macht.

Er ist weder ein Ersatz für das Volk noch der einzige Hüter der Verfassung. Denn in einem gewissen Sinn ist jedes Verfassungsorgan, ja jedes Staatsorgan Hüter der Verfassung. Aber es sind seine Zuständigkeiten, insbesondere seine Funktion als "negativer Gesetzgeber" und Normenkontrolleur, die ihn zu einem besonderen Verfassungsorgan machen. Allein mit einer solchen politischen Aufgabenstellung wirkt der Verfassungsgerichtshof an politischen Prozessen mit. Auch wenn das viele nicht so sehen, ist er ein politischer Akteur und muss dementsprechend beobachtet und analysiert werden. Das gilt auch für die Wahrnehmung seiner anderen Zuständigkeiten.

Keine Partei war gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit. Diese Konsensualität bei der vielfachen Konfliktualität ist bemerkenswert. Der Grund mag darin liegen, dass der Präsident, der Vizepräsident sowie die Hälfte der Mitglieder und Ersatzmitglieder vom Nationalrat, die andere Hälfte der Mitglieder und Ersatzmitglieder vom Bundesrat auf Lebensdauer zu wählen waren. Der VfGH war ein Geschöpf des Parlaments. Gegen diese "Parlamentarisierung" forderten die Rechtsparteien eine "Entpolitisierung".

Diese wurde durch die Bundesverfassungsnovelle 1929 aber eine "Umpolitisierung" zu Lasten der sozialdemokratischen Opposition und zugunsten der Rechtsregierung: Der Präsident, der Vizepräsident, sechs weitere Mitglieder und drei Ersatzmitglieder werden über Vorschlag der Bundesregierung, die übrigen sechs Mitglieder und drei Ersatzmitglieder aufgrund von Dreiervorschlägen, die für drei Mitglieder und zwei Ersatzmitglieder der Nationalrat und für drei Mitglieder und ein Ersatzmitglied der Bundesrat erstatten, vom Bundespräsidenten ernannt. 1994 wurde durch eine Spezialnovelle das Wort "Dreiervorschläge" durch "Vorschläge" ersetzt. Damit wurde dem Bundespräsidenten ein Wahlrecht weggenommen.

Faszinierender Weg zur "negativen Gesetzgebung"

Aber nicht die bloße Aufhebung von Gesetzesbestimmungen ist das Faszinierende bei der "negativen Gesetzgebung", sondern der Weg, der dahin führt: die Auslegung der Bundesverfassung. Ein berühmtes VfGH-Mitglied sagte einmal: "Wir sind Gefangene des Wortlauts!" Ich fand es immer nötig, dass der VfGH die Verfassung grundsätzlich so auslegt, als wäre sie ein normales Gesetz. Wenn er bei der Auslegung herkömmliche Methoden anwendet und auch dann, wenn die Verfassung weder explizit noch implizit die Antwort auf die gestellte Frage gibt, so vorgeht, als würde er interpretieren, kann er Entscheidungen rational nachvollziehbar machen.

Seinen Erkenntnissen und Beschlüssen samt Entscheidungsgründen kommt meist eine spezifische generelle Rechtskraft zu. Auch für Österreich gilt der für die USA geprägte Satz: Wir haben eine Verfassung, aber diese ist das, was der VfGH daraus macht. Oder kürzer: Der VfGH ist mit seiner Rechtssprechung die lebende Verfassung.

Es wird immer umstritten sein, wie weit er bei der Auslegung gehen darf/soll/kann. Die Träger von Legislative, oberster Exekutive, Opposition, Öffentlichkeit und Wählerschaft stellen sich Kontrolle und Rechenschaftslegung und müssen sich periodisch um demokratische Legitimation bemühen - der VfGH, dessen Mitglieder bis zum 70. Lebensjahr im Amt sind, steht außerhalb jeder Kontrolle. Die Wächter bewachen sich also selbst. Seit den 1960ern trete ich für die Einrichtung der "Dissenting Opinion" ein: für die abweichende Meinung eines oder mehrerer Mitglieder des VfGH bei der Entscheidungsfindung, die mit der mehrheitlichen Auffassung nicht übereinstimmt. Aber das werde ich wohl nicht erleben.

Die Verfassungsgerichtsbarkeit verwirklicht einen alten Traum: die Herrschaft von Gesetzen. Ohne Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit wäre die Bindung an Verfassung und Gesetz ein frommer Wunsch an die Adresse von Gesetzgebung und Verwaltung. Einst galt: "Princeps legibus solutus." (Der Fürst ist frei von Gesetzen.) Jetzt heißt es: "Lex (Gesetz) est rex (König)." Die Herrschaft der Gesetze wurde dank Normenkontrolle aus einer "lex imperfecta" zur "lex perfecta". Verfassungsstaat - Gesetzesstaat - Rechtsstaat - Menschenrechtsstaat. "Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte ...", bestimmte schon das AGBG 1811. Aber wie lange hat es gedauert, bis in Österreich der Menschenrechtsstaat erkämpft wurde - gegen Absolutismus, Klerikalismus, Feudalismus, Militarismus, Polizeistaat - und es geht weiter.

Manfred Welan

Die Mitglieder sind Nebenberufsrichter. Es gibt strenge Vorschriften zur Unvereinbarkeit (etwa andere politische Ämter).

Es gibt eine Funktionsbegrenzung: Wer ernannt ist, bleibt bis zum 70. Lebensjahr. Der VfGH erkennt in Sessionen, er ist kein Dauergericht. Er erkennt nicht in Senaten, sondern als Plenum. Nur in minderwichtigen Angelegenheit kann er als kleiner Senat erkennen. Nicht alle Mitglieder haben gleiches Gewicht: Präsident und Vizepräsident sind etwas Besonderes. Während beide in Wien wohnen müssen, haben drei Mitglieder ihren ständigen Wohnsitz außerhalb Wiens. Der VfGH wird nicht initiativ (wie Regierung oder Parlament), sondern nur reaktiv tätig - so wie auch der Bundespräsident.